Das Kosten-Nutzen-Dilemma der Kulturpolitik
Kulturpolitik soll Kultur ermöglichen, nicht aber selbst welche erzeugen. Sie soll ihr Wachsen fördern, ihr die Aufmerksamkeit des Publikums sichern, ihr aber keine Vorschriften machen. Weil aber die Kulturpolitik selbst nichts erzeugt, haben Kulturpolitiker – öfter noch als ihre Kollegen in anderen Ressorts – ein Problem, wenn nach ihrer Leistungsbilanz gefragt wird.
Geld für Kulturförderung – ist das gut angelegt?
Kulturpolitiker können dafür sorgen, dass Räume geschaffen oder erhalten werden, in denen kulturelles Leben sich abspielt. Aber auf das Mietniveau haben sie in aller Regel keinen Einfluss, und die Luxusmodernisierung lebendiger Innenstadtviertel können sie nicht verhindern. Sie können sich vor dem renovierten Theater, dem neuen Literaturhaus, der altehrwürdigen Musikschule mit dem Intendanten, dem Leiter, mit einer Gruppe von Schülern fotografieren lassen. Aber was, wenn im Theater, im Literaturhaus, in der Oper, in der Musikschule, im Konservatorium nur Routine herrscht, sich wenig Inspirierendes abspielt? Was, wenn große Teile des Publikums sich selbst für Inspirierendes nicht interessieren?
Kulturpolitiker können bekannte Künstler einladen, ihnen günstige Arbeitsbedingungen, ein Stipendium, ein Atelier, eine gutbezahlte Professur mit reduzierter Lehrverpflichtung geben, dafür sorgen, dass die örtliche Presse sie interviewt und ihr Bild in die Zeitung kommt. Am besten zusammen mit dem Oberbürgermeister oder dem Kulturreferenten. Vielleicht initiieren sie öffentliche Diskussionen über kulturelle Fragen, veranstalten eine lange Nacht der Museen, einen Tag der Offenen Tür in der Musikschule, bringen Schriftsteller und Künstler in die Schulen, stellen Kunst in den öffentlichen Raum. Und nach einem Jahr oder zwei fragen die Journalisten, fragen die Wähler: Was hat es gebracht? War das viele Geld gut angelegt?
Was zählt, sind die Zuschauerzahlen
Es war meistens gar nicht viel Geld. Aber weil wir nicht wirklich wissen, unter welchen Bedingungen Kultur erblüht, weil das Publikum, gerade auch sein banausischer Teil, störrisch, unberechenbar und ungerecht ist, können wir auch nicht überzeugend erklären: Dieses und jenes haben wir getan und dadurch dieses und jenes bewirkt.
Vielleicht möchten die Kulturpolitiker auf drängende Nachfragen gern antworten: Ich habe zwei oder drei wunderbare Aufführungen im Theater gesehen. Ist das nicht genug? Ich habe bei einem Konzert in der Musikschule in glänzende Kinderaugen geblickt. Als ich nach einer Lesung aus dem Literaturhaus kam und durch die fast menschenleeren Straßen ging, hatte ich das Gefühl, als vibriere die Luft. Jeden Tag, wenn ich an der Skulptur von XY in der Innenstadt vorbeikomme, erfreue ich mich daran.
Aber sicherheitshalber verweisen sie dann doch meistens auf das große Medienecho, das das Konzert des berühmten Dirigenten YZ ausgelöst hat, auf die Zuschauerzahlen der Matisse-Ausstellung, die man von der Kunsthalle Zürich übernommen hat, auf die wachsende Zahl von Übernachtungen während der Festspiele und die positive Bilanz, die kürzlich das Gaststätten- und Taxigewerbe gezogen hat.
Kunst gilt nur als ökonomischer Faktor
Die Kreativwirtschaft! Wenn es hart auf hart kommt, lässt sich Kunst und Kultur am ehesten noch als ökonomischer Faktor rechtfertigen. Die vielen Arbeitsplätze im Verlagswesen der Stadt. Die wachsende Zahl der Museumsbesucher. Das, was im Ökonomen-Englisch die Spin-offs heißt. Und, nicht zu vergessen, die kulturelle Attraktivität des Standorts für bildungsbeflissene Führungskräfte. Vielleicht verweist der eine oder die andere auch auf neuere Untersuchungen, die zeigen, dass Schüler, die ein Instrument spielen, oft auch bessere Leistungen in Mathematik und Physik erbringen und weniger oft die Blumenbeete im Stadtpark zertrampeln oder im Fußballstadion randalieren. ABER RECHTFERTIGT DAS ALLES DIE MILLIONEN FÜR DIE OPER UND IHREN EXZENTRISCHEN INTENDANTEN?
Kulturpolitik ist ein schwieriges Geschäft. Kulturpolitiker geben das Geld von Steuerzahlern für Dinge aus, die diese in der Mehrzahl für völlig überflüssig halten. Das so etwas in einer Demokratie möglich ist, immer noch möglich ist, ist ein Wunder. Allein dafür sollte man den Kulturpolitikern dankbar sein.
Denn, was Voltaire noch einleuchtete, ist unserer am allzu schlichten Nützlichkeitsdenken orientierten Öffentlichkeit oft nur schwer zu vermitteln: „Parmi les choses les plus nécessaires il faut mettre au permier rang le superflu!“ Zu den nötigsten Dingen zählt vor allem das Überflüssige! Welch eine Aussage. Doch ,das Überflüssige‘ kann sich zunehmend nur noch rechtfertigen, wenn es sich auf umwegige Art doch noch als nützlich, vor allem als ökonomisch nützlich erweist.
Erfolgskontrolle, Zielwerte, gute Locations
Erfolgskontrolle heißt das Codewort, wenn Behörden prüfen, ob die wenigen Euro, mit denen sie eine kulturelle Veranstaltung bezuschussen, richtig angelegt sind. In ihrer Beweisnot klammern sich die Kontrolleure an quantifizierbare Kriterien wie die Zahl der Gäste, Zuschauer, Besucher, der Medienberichte, vorzugsweise in überregionalen Medien.
Neuerdings werden oft „Zielwerte“ vorher festgelegt: Bei der Eröffnung der Ausstellung sollten mindestens 200 Gäste anwesend sein, über die Veranstaltung sollte von mindestens zwei überregionalen Feuilletons berichtet werden. Ob die Gäste sich wirklich für die ausgestellte Kunst interessieren oder nur den neuesten Klatsch austauschen, über die angebotenen Häppchen herfallen und nach dem zweiten Glas Wein wieder verschwinden, um nur ja nicht die Talkshow mit Heiner Lauterbach und Gloria von Thurn und Taxis zu versäumen, interessiert nicht. Werden die Zielwerte erreicht, gilt die Veranstaltung als Erfolg, wenn nicht, gilt sie als gescheitert.
Es müssen nicht immer große Zahlen sein. Manchmal kann auch der ausgefallene Ort, im Zeitgeistjargon: die location, für Aufsehen und damit für die Legitimierung des kulturellen Projekts sorgen. Moritz Rinke liest in einem Autohaus in Sottrum aus seinem autobiographischen Roman über Worpswede. Sebastian Hess, Veronika Hagen und Benjamin Schmid spielen die kompletten Goldbergvariationen in Europas „höchstem Konzertsaal“ im obersten Stock der Münchener Highlight Towers. Mireille Mathieu singt vor Strafgefangenen in Fuhlsbüttel La vie en rose.
Ich selbst habe einmal in einer Kleinstadt in einem Supermarkt aus meiner Autobiographie gelesen. Vor dem Spirituosenregal. Der Filialleiter, der mich begrüßte, fand das ausgesprochen passend: „Geist zu Geist“, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. Wenn man als Schriftsteller nicht zu den Stars der Szene gehört, die jeden Saal füllen, muss man auch mal mit einem Supermarkt Vorlieb nehmen.
Kosten-Nutzen-Rechnungen als Kriterien für Kultur?
Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Gilt das auch für den Künstler? Und wenn nicht, sollte er dann nicht wenigstens nützlich sein? Es mag sein, dass die Beschäftigung mit der Kunst uns als Menschen veredelt, dass sie unsere besseren Seiten zum Vorschein bringt, dass sie uns lang anhaltende Freude schenkt und dann und wann tiefe Einsichten ins Dasein, uns hilft, Schicksalsschläge zu verarbeiten und mit dem Leben zurecht zu kommen. Aber die Aufgabe der Kunst ist dies alles nicht. Kunst, auch Kultur im weiten Sinn, bedarf keiner Rechtfertigung durch den Verweis auf Nützlichkeiten. Wer in Kultur investiert, der sollte wissen, dass er in ein produktives Chaos investiert.
Dass Kultur nicht planbar ist, dass Kosten-Nutzen-Berechnungen hier fehl am Platze sind, ist in unserer modernen Welt eine offene Wunde. Da hilft es denn auch wenig, wenn man darauf hinweist, dass Kultur und Demokratie irgendwie zusammengehören. Die meisten möchten es gern doch ein wenig genauer wissen. Um sie von der Wichtigkeit eines Kulturereignisses zu überzeugen, braucht es messbare Kriterien, Zahlen, möglichst alles Vorangegangene übersteigenden Zahlen.
Also müssen auch in der Kultur Rekorde her: „Das Stadttheater präsentiert in einer 72-stündigen Lesung die ganze Ilias. Ungekürzt. Oder die ganze Odyssee. Oder die Tagebücher von Victor Klemperer. Natürlich auch ungekürzt. Oder: Tutzing liest ein Buch.“ Möglichst alle Einwohner von Tutzing, zumindest aber alle Schüler aller Schulen lesen in einer einzigen Woche ein einziges Buch. Und am Ende der Woche kommt die Autorin und liest selbst noch einmal einige Kapitel aus eben diesem Buch.
Demokratie braucht Kultur
Eine ganze Seite im Kulturteil der Lokalzeitung ist garantiert und Sponsoren finden sich zumeist auch, wenn die Sache Aufsehen zu erregen verspricht. Ein Event! Womöglich sogar eines mit der durchaus wünschenswerten Folge, dass nun mehr junge Leute in Tutzing und Umgebung dann und wann zu einem Buch greifen.
Wo man dem Publikum ein Buch schon nicht mehr meint zumuten zu können, muss ein anderes Großereignis her: „Coburgs Metzger stellen fürs Guinness-Buch der Rekorde die längste Bratwurst her.“ Die Berichterstattung darüber steht dann aber vermutlich auch im Kulturteil der Zeitung, weil niemand zu sagen weiß, ob das noch zur Kultur oder schon zum Sport gehört. Wo Sponsoren zufrieden gestellt werden und Leistungsnachweise erbracht werden müssen, ist die Eventkultur der Ausweg, der sich anbietet.
Die Demokratie braucht Kultur. Welche Kultur? Auch das Leise, das Abseitige, Elitäre, Verstörende? Oder können wir uns getrost auf die Abstimmung mit den Füßen verlassen? Sind Absatz- und Besucherzahlen der gültige Maßstab, ist das Event tatsächlich die demokratische Kulturform? Kulturpolitiker, wenn sie nicht von allen guten Geistern verlassen sind, wissen natürlich, dass es so einfach nicht ist.
Das Doppelleben der Kulturpolitiker
Viele von ihnen führen ein veritables Doppelleben. Im Umgang mit „ihren“ Künstlern, in einer kleinen Rede vor dem handverlesenen Publikum einer Vernissage, bei der Eröffnung eines Kurzfilmfestivals, auf einer kulturpolitischen Tagung sprechen sie zumeist eine andere Sprache als vor der großen Öffentlichkeit oder im Stadtrat, wo sie ihr Tun rechtfertigen müssen. Möglicherweise ist diese professionelle „Doppelzüngigkeit“ gar nicht zu vermeiden, wenn man nicht riskieren will, der Barbarei das Feld zu überlassen.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er lebt von der Kultur und durch die Kultur, er braucht die beglückende und verstörende Sinndeutung durch die Kunst, um sich nicht zu verlieren. Und wenn er mit dem in Berührung kommt, aus dem sie erwächst, dann läuft ihm vielleicht ein Schauer über den Rücken wie vor zweitausend Jahren dem griechischen Jüngling im heiligen Hain, wenn ein plötzlicher Windstoß die Blätter bewegte und die Anwesenheit der Götter bezeugte. Denn, das wissen wir seit Rilke, „das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang…“
Kulturpolitik kann Kultur ermöglichen, nicht erzeugen
Pina Bausch, die große Tänzerin und Choreographin, hat es einmal den Mitgliedern ihres Ensembles gegenüber so ausgedrückt: „Tanzt, tanzt! Sonst sind wir verloren.“ Wer sich den wunderbaren Film anschaut, den Wim Wenders über diese Künstlerin gedreht hat, wird verstehen, was sie damit meinte.
Kulturpolitik kann Kultur zulassen, sie kann sie ermöglichen, sie kann sie nicht erzeugen. Wenn wir uns dem Ursprung der Kultur nähern, schauen wir in einen Abgrund. Oder in den sternenübersäten Nachthimmel. Oder ins glühende Innere der Erde.
ist Politologe, Schriftsteller und Publizist. Von 1970 bis 1975 war er stellvertredender Bundesvorsitzender der Jusos und einer ihrer wichtigsten Vordenker. Ab 1995 war er Generalsekretär des deutschen PEN-Clubs und von 2002 bis 2013 dessen Präsident.