Debatte

Das Bedingungslose Grundeinkommen: Weder gerecht noch realistisch

Das bedingungslose Grundeinkommen hält nicht das, was sich viele Menschen von ihm versprechen. Reiche brauchen es nicht, weil sie Geld im Überfluss haben, Armen reicht es nicht, um würdevoll leben zu können. Und Armut würde das BGE nicht verringern
von Christoph Butterwegge · 2. November 2018
Irrweg Grundeinkommen: Keinem nützt eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip
Irrweg Grundeinkommen: Keinem nützt eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip

Auf den ersten Blick wirkt das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) erfrischend und sympathisch, wenn nicht gar faszinierend. Durch seine Einführung würde die allseits beklagte „Krise des Sozialstaates“, die in Wahrheit eine Krise des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ist, scheinbar mit einem Schlag beseitigt. Die umstrittenen Reformmaßnahmen der „Agenda 2010“ und besonders die Hartz-Gesetze, so hoffen wenigstens die BGE-Befürworter, wären damit endlich Geschichte, und ein neues Zeitalter bräche an, in dem alle die gleiche Transferleistung vom Staat bekämen. Betrachtet man die Heterogenität der BGE-Anhängerschaft, kann es sich dabei allerdings nur um eine politische Wundertüte handeln, aus der sich jeder herausnimmt, was seinen kühnsten Hoffnungen entspricht.

Das Grundeinkommen: eine Idee aus dem Feudalismus

Die utopische Idee, sämtliche Bürger vom Arbeitszwang zu befreien und Armut zu vermeiden, indem der Staat allen Gesellschaftsmitgliedern ein gleich hohes, ihre materielle Existenz auf einem Mindestniveau sicherndes Grundeinkommen zahlt, stammt aus dem Feudalismus. In seiner 1875 verfassten „Kritik des Gothaer Programms“ wies Marx die deutschen Sozialdemokraten darauf hin, dass man sich erst „in einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft“, nachdem „die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit“ ebenso verschwunden sei wie „der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit“, das folgende Prinzip auf die Fahne schreiben könne: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ Wie es scheint, soll mit dem bedingungslosen Grundeinkommen der Kommunismus bereits heute Einzug halten, ohne dass der Finanzmarktkapitalismus überwunden wäre. Ganz im Gegenteil: Nie war das Kapital mächtiger und weltbeherrschender als in der Gegenwart, weshalb die Forderungen bescheidener und weniger illusionär sein sollten.

Das Ende der Solidargemeinschaft

Ausgerechnet die einflussreichsten BGE-Modelle laufen auf eine Zerschlagung des bestehenden Sozial(versicherungs)staates hinaus, der zumindest seinem Anspruch nach Bedarfsgerechtigkeit schafft, den Lebensstandard von Erwerbslosen halbwegs sichernde Lohnersatzleistungen bereitstellt und die Lebensleistung von Ruheständlern durch Zahlung einer Rente oder Pension anerkennt. Dagegen sieht das Grundeinkommen von den konkreten Arbeits-, Lebens-, Einkommens- und Vermögensverhältnissen seiner Bezieher ab. Es wird sämtlichen Bürgern in gleicher Höhe gezahlt – ganz egal, ob sie Spitzensportler oder schwerstbehindert, ob sie Villenbesitzer oder obdachlos, ob sie Multimilliardär, Müllwerker oder Multijobberin  sind.

Alle werden über einen Leisten geschlagen, was differenzierte Lösungen für soziale Probleme ausschließt und zutiefst ungerecht ist. In einer Solidargemeinschaft erhalten Bedürftige dagegen grundsätzlich mehr als Nichtbedürftige, und Wohlhabende gehen leer aus, übernehmen aber zum größten Teil die Kosten. Damit wäre es nach Einführung des Grundeinkommens vorbei. Denn gerade die einflussreichsten BGE-Modelle laufen auf eine Zerschlagung des bestehenden Sozial(versicherungs)staates hinaus, der zumindest seinem Anspruch nach Bedarfsgerechtigkeit schafft, den Lebensstandard von Erwerbslosen halbwegs sichernde Lohnersatzleistungen bereitstellt und die Lebensleistung von Ruheständlern durch Zahlung einer Rente oder Pension anerkennt.

Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip

Aufgrund seiner mangelnden Zielgenauigkeit eignet sich das bedingungslose Grundeinkommen nur sehr bedingt zur Verringerung oder zur Verhinderung der Neuentstehung von Armut. Keinem nützt eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip: Reiche brauchen das Grundeinkommen nicht, weil sie Geld im Überfluss haben, und Armen reicht es nicht, um würdevoll leben zu können. Bekämen alle Bürger vom Staat 1.000 Euro pro Monat, nähme zwar die absolute, nicht jedoch die hierzulande vorherrschende relative Armut deutlich ab. Vielmehr würde die von der EU bei 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens angesetzte Armuts(risiko)schwelle bloß so weit nach oben verschoben, dass man ihr mit diesem Betrag allein nahe bliebe. Um dies zu ändern, müsste man trotz Grundeinkommensbezugs erwerbstätig sein, wodurch ein indirekter Arbeitszwang fortbestünde.

Vermutlich würde das bedingungslose Grundeinkommen als ein Kombilohn für alle wirken, weil der Staat für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft aufkäme und die Unternehmer dafür mit dem von ihnen gezahlten Lohn oder Gehalt entsprechend weniger dafür aufbringen müssten. Da die Menschen nicht bloß der Existenzsicherung wegen arbeiten, dürften die meisten BGE-Empfänger an einer Beschäftigung interessiert bleiben. Der ausufernde Niedriglohnsektor, heute bereits das Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien- und spätere Altersarmut in Deutschland, würde deshalb nicht eingedämmt, sondern noch massiver durch den Staat subventioniert. Dieser hat seit 2005 bereits Arbeitslosengeld II in Höhe von über 100 Milliarden Euro an sogenannte Aufstocker bezahlt, also Menschen, die gar nicht arbeitslos sind, sondern von ihrem Lohn oder Gehalt nicht leben können.

Gerechtigkeit für niemand

Das bedingungslose Grundeinkommen widerspricht allen gängigen Gerechtigkeitsvorstellungen. Weder sorgt es für Bedarfsgerechtigkeit noch für Leistungsgerechtigkeit, erst recht jedoch nicht für Verteilungsgerechtigkeit. Denn wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn das Mitglied einer Landkommune in Mecklenburg-Vorpommern ohne nennenswerte Wohnkosten denselben Geldbetrag erhält wie ein Single, der in München keine bezahlbare Mietwohnung findet? Und was ist mit einem Menschen, der darüber hinaus schwerstbehindert, also etwa blind ist? Ist es gerecht, dass es bei der Gewährung des Grundeinkommens überhaupt keine Rolle spielt, wie sehr sich ein Anspruchsberechtigter angestrengt und was er im Laufe seines Lebens geleistet hat? Und was ändert sich durch das Grundeinkommen an der Ungerechtigkeit einer seit Jahrzehnten bestehenden Verteilungsschieflage beim Vermögen, erhält ein Mittelloser doch nur so viel, dass er nicht hungern muss, aber keinen Cent mehr als ein Milliardär, der das Grundeinkommen überhaupt nicht braucht?

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Autor*in
Christoph Butterwegge
Christoph Butterwegge

hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und kürzlich das Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ veröffentlicht.

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