Albig: „Das Boot ist eben nicht voll.“
Herr Ministerpräsident, über Flüchtlinge wird in den Medien vor allem im Zusammenhang mit Problemen berichtet. Werden die Chancen für die Aufnahmegesellschaft zu wenig dargestellt?
Leider ja. Es kommen Menschen, keine Heiligen. Es gibt keinen Grund, Probleme schön zu reden, aber man kann sich darauf fokussieren, sie unaufgeregt zu lösen. Man muss den Menschen klar machen, dass wir Teil einer Welt sind, in der andere Menschen verfolgt werden und ihre Heimat verlassen müssen. Diese Flüchtlinge haben alles verloren und oft eine sehr abenteuerliche und vor allem gefährliche Flucht hinter sich. Diesen Menschen sollten wir mit Herzlichkeit und Freundlichkeit begegnen, denn heute sind sie noch Fremde, morgen schon Bekannte und übermorgen unsere Freunde. Gerade wir in Schleswig-Holstein pflegen eine sehr ausgeprägte Willkommenskultur und konzentrieren uns auf die Chancen, die sich uns durch die Flüchtlinge eröffnen. Sie bereichern unsere Kultur und unser Zusammenleben. Sie werden gemeinsam mit uns unser Schleswig-Holstein im 21. Jahrhundert mitgestalten.
Sie haben die zynische Sprache mancher Politiker und Medien in der Flüchtlingsfrage kritisiert, etwa wenn von einer gefährlichen Flüchtlingsflut gesprochen wird, gegen die Schutzdämme errichtet werden müssten. Was muss sich hier ändern?
Politik und Medien müssen sprachlich abrüsten: Das Boot ist eben nicht voll. Es kommen Menschen zu uns, die unsere Hilfe brauchen. Unsere Aufgabe ist es, das Boot seetüchtig zu machen und uns den Herausforderungen zu stellen, die die derzeitige Situation auf der Welt mit sich bringt.
Immer wieder kommt es zu Widerstand gegen Flüchtlingsunterkünfte, wiederholt auch zu Anschlägen. Agieren Polizei und Staatsanwaltschaft hier aufmerksam und entschlossen genug oder sehen Sie Verbesserungsbedarf?
Ich glaube, dass es in erster Linie an den Verantwortlichen der Kommunen ist, die Bürgerinnen und Bürger durch Transparenz und Information dazu zu bringen, Flüchtlingsunterkünfte in ihrer Nachbarschaft zu akzeptieren. Auch in Schleswig-Holstein ist es leider schon zu Anschlägen gegen Flüchtlingsunterkünfte gekommen, zuletzt im Februar in Escheburg. Das verurteile ich aufs Schärfste! Dennoch machen unsere Polizei und unsere Staatsanwaltschaft auch in diesen Fällen einen guten Job. Die Polizei reagiert sehr sensibel in solchen Fällen, die Taten werden mit Hochdruck verfolgt und der Fall in Escheburg konnte rasch aufgeklärt werden. Ich sehe daher bei uns in Schleswig-Holstein keinen Verbesserungsbedarf. Und es war gut zu sehen, wie sich die Zivilgesellschaft - wie in Escheburg - an die Seite der Flüchtlinge gestellt hat. Das macht viel Mut.
Was haben Ihrer Meinung nach eine aufgeschlossene Willkommenskultur und ein moderner Patriotismus miteinander zu tun?
Wer sein Land liebt, der geht offen und respektvoll auf die Menschen zu, die kommen, weil sie Schutz und eine neue Heimat suchen. Zu einem modernen Patriotismus gehört das Verständnis für die Herausforderungen, vor denen das Land steht und die lauten beispielsweise Fachkräftemangel und demografischer Wandel. Deshalb sind wir auf Zuwanderung angewiesen.
Deutschland braucht jährlich 500.000 Zugewanderte, um einen Teil der Arbeitskräftelücke zu schließen. Dieser Saldo wurde zuletzt 1992 erreicht. Im Schnitt der letzten Jahre lag der Zuwanderungssaldo nur bei rund 200.000. Erst seit letztem Jahr nähern wir uns der halben Millionen und damit unserem Bedarf.
Aber Integration kann man nicht von oben verordnen, das geht nicht ohne Zivilgesellschaft und Willkommenskultur. Unser Flüchtlingspakt ist ein Dokument des Handelns und zeigt wie eng eine aufgeschlossene Willkommenskultur mit modernem Patriotismus verknüpft ist.
Sehen Sie einen Widerspruch zwischen einer Willkommenskultur und der konsequenten Abschiebung derjenigen Flüchtlinge, deren Aufenthaltswunsch rechtskräftig abgelehnt wurde?
Ich sehe da absolut keinen Widerspruch. Wir in Schleswig-Holstein heißen erst einmal jeden Flüchtling willkommen, der zu uns kommt, unabhängig davon, ob er bleiben darf oder nicht. Wir unterscheiden nicht in Flüchtlinge erster oder zweiter Klasse. Aber Willkommenskultur wird natürlich im Rahmen geltenden Rechts praktiziert. Sollte sich also herausstellen, dass ein Asylantrag nicht genehmigt werden kann, muss der Bewerber wieder zurück in seine Heimat reisen.
Wo sehen Sie in der immer wieder umstrittenen Abschiebepraxis Veränderungsbedarf?
Schleswig-Holstein wird derzeit vor allem von den CDU-regierten Ländern wegen seines Winter-Abschiebestopps kritisiert. Dabei habe ich wiederholt darauf hingewiesen, dass unsere Abschiebezahlen aufs Jahr gerechnet nicht niedriger sind, als die von Bayern. Deshalb haben wir auch zukünftig nicht vor, in den tiefen Schnee - und damit in eine Gefahr für das eigene Leben - abzuschieben. Veränderungsbedarf besteht allerdings bei dem riesigen Rückstau bei der Bearbeitung der Asylanträge durch den Bund. Solange die Anträge nicht bearbeitet werden, kann es auch zu keiner Abschiebung durch die Kommunen kommen. Das BAMF muss so ausgestattet werden, dass ein durchschnittliches Asylverfahren nur drei Monate dauert. Ich hoffe, mit dem nun in Berlin zwischen Bund und Ländern vereinbarten Aktionsplan sind wir da auf einem guten Weg.
Welche Rolle muss die Bekämpfung von Fluchtursachen in der Flüchtlingspolitik spielen?
Zu einer sinnvollen Flüchtlingspolitik gehört es, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu beseitigen. Diese Aufgabe muss stärker in den Fokus rücken. Europäische Außen- und Sicherheitspolitik muss dabei helfen, Kriege zu beenden. Aber auch die europäische Wirtschafts-, Handels-, Fischerei-, Agrar-, Entwicklungs- und Einwanderungspolitik ist gefragt, um die Armut in den Herkunftsländern nachhaltig zu bekämpfen.
Die EU-Staaten ringen bisher ohne Erfolg um eine faire Verteilung der Flüchtlinge zwischen den EU-Staaten. Was muss sich hier ändern?
Die Lastenverteilung innerhalb der EU muss solidarischer sein. Faktisch ist das Dublin-System gescheitert. Derzeit nehmen fünf der 28 EU-Mitgliedstaaten drei Viertel der Flüchtlinge auf.
Im Verhältnis zur Einwohnerzahl ist Schweden mit 24,5 Flüchtlingen pro 1.000 Einwohner das Land, dass die meisten Flüchtlinge aufnimmt, gefolgt von Malta, Luxemburg, der Schweiz und Montenegro. Deutschland nimmt mit 5,3 Flüchtlingen pro 1.000 Einwohner Platz 13 in Europa ein. (Zahlen: Aufnahmen 2010-2014)
Ein Ansatz in der Flüchtlingspolitik in der EU ist die effektivere Bekämpfung von Schleusern und Schleppern, etwa mit polizeilichen oder sogar militärischen Mitteln. Was halten Sie davon?
Schlepperbanden und Menschenhändler müssen bekämpft werden. Es kann nicht sein, dass man dem verantwortungslosen und nur von Profitgier geprägten Treiben tatenlos zuschaut und dabei die Gefährdung tausender Menschenleben in Kauf nimmt. Aber wenn die Bemühungen darauf abzielen zu verhindern, dass Menschen, die nicht politisch verfolgt sind, die Fahrt über das Mittelmeer überhaupt antreten, muss ich sagen, das ist nicht der richtige Weg. Es sollte doch vielmehr darum gehen, mehr legale Zuwanderungswege zu schaffen. Dazu müsste geltendes Recht lediglich Anwendung finden. Flüchtlinge aus „unsicheren“ Herkunftsländern wie Syrien, Eritrea und Somalia könnten im Rahmen von Resettlement-Programmen direkt aus dem Ausland aufgenommen werden. Das würde ihnen die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer ersparen.