Als am 22. September 2014 die US-amerikanischen Luftangriffe auf den „Islamischen Staat“ (IS) in Syrien begannen, trafen die ersten Bomben auch Ziele in der Provinz Idlib im Norden des Landes. Das war bemerkenswert, weil der IS seine Stützpunkte in dieser Provinz bereits Anfang 2014 aufgegeben hatte. Die US-Regierung machte auch gar keinen Hehl daraus, dass ihre Angriffe nicht dem IS, sondern einer bis dahin weitgehend unbekannten Gruppe namens Khorasan gegolten hatten. Einige Vertreter der Obama-Administration bezeichneten Khorasan als die viel größere terroristische Bedrohung für den Westen als den IS.
Die Aussagen überraschten, denn in den Monaten zuvor hatte die Aufmerksamkeit von Politik und Medien vor allem dem IS gegolten. Die irakisch-syrische Organisation nahm im Sommer 2014 große Teile des Irak im Sturm und war auch in Syrien auf dem Vormarsch. Dass sich mindestens einige hundert Europäer dem IS angeschlossen hatten, ließ die Furcht vor Anschlägen in Europa wachsen. Und das Attentat auf das Jüdische Museum Brüssel im Mai 2014, bei dem ein französischer Rückkehrer aus Syrien vier Menschen erschoss, schien diese Befürchtungen zu bestätigen.
Anschläge in Europa durch den IS sind spekulativ
Allerdings gibt es keinen Beleg, dass das Attentat von Brüssel vom IS in Auftrag gegeben wurde und es ist nicht klar, ob der IS tatsächlich Anschläge in Europa verüben will. Zurzeit ist seine Strategie in erster Linie auf die Sicherung und Ausweitung des von ihm kontrollierten Territoriums in Syrien und im Irak ausgerichtet. Europäer werden zwar häufig als Selbstmordattentäter eingesetzt, aber in diesen beiden Ländern und nicht in ihren Heimatländern. Das wichtigste Argument dafür, dass der IS trotzdem eines Tages Anschläge in der westlichen Welt in Auftrag geben wird, ist bisher noch ein spekulatives: Der IS befindet sich in Konkurrenz zu al-Qaida und sein Anführer Abu Bakr al-Baghdadi hat durch die Ausrufung des Kalifats im Juni 2014 deutlich gemacht, dass er Osama bin Laden als Führer der Dschihadisten weltweit beerben will. Damit ihm dies gelingt, muss er über kurz oder lang einen Anschlag in Europa oder den USA verüben.
Dieses Argument ist zwar vage, aber vollkommen richtig, und die europäischen Sicherheitsbehörden sind gut beraten, sich auf die vom IS ausgehende Gefahr vorzubereiten. Doch die Nachrichten über die Khorasan-Gruppe weisen auf eine noch größere und auch konkretere Gefahr hin. Die Dschihadisten verwenden den Namen „Khorasan“ für Afghanistan, und bei der Khorasan-Gruppe handelt es sich um Mitglieder der al-Qaida, die aus Pakistan, Afghanistan und Iran nach Syrien gereist sind und sich dort dem örtlichen al-Qaida-Ableger angeschlossen haben, der Nusra-Front. Da die Nusra-Front in der Provinz Idlib besonders stark ist, ist es nur logisch, dass die Khorasan-Gruppe dort ihr Hauptquartier aufschlug.
Al-Qaida im Jemen hat das Wissen für Bomben
US-amerikanischen nachrichtendienstlichen Informationen zufolge bemühte sich die Gruppe, Rekruten aus westlichen Ländern – die seit 2012 zu Tausenden nach Syrien gereist sind – für Anschläge auf den Luftverkehr zu gewinnen. Zu diesem Zweck unterhielt die Gruppe auch Kontakte zur jemenitischen al-Qaida, die über das nötige Know-how verfügt. Wie konkret die Informationen waren, zeigte sich schon an den US-amerikanischen Terrorwarnungen vom Juli 2014, die dazu führten, dass Reisende auf Transatlantikflügen nachweisen mussten, dass die Akkus ihrer elektronischen Geräte geladen waren. Diese Maßnahmen verwiesen auf den Bombenbauer der jemenitischen al-Qaida, den Saudi Ibrahim Assiri. Der hatte schon 2009 und 2010 Sprengstoff präpariert, der einmal in der Unterhose eines Selbstmordattentäters und einmal in zwei Druckerpatronen versteckt war. Beide Male war es das Ziel, Flugzeuge auf dem Landeanflug in die USA in die Luft zu jagen. Und dieser Assiri sollte den US-Informationen zufolge in Verbindung zur Khorasan-Gruppe stehen und sich vielleicht sogar in Syrien aufhalten.
Das wichtigste Indiz dafür, dass es den US-Behörden sehr ernst war, ist die Genauigkeit der Luftschläge. Die Nusra-Front und al-Qaida bestätigten nämlich, dass der Führer der Khorasan-Gruppe neben anderen Mitgliedern bei den Angriffen getötet wurde. Ob sie trotz der Verluste in der Lage ist, an den Plänen weiterzuarbeiten, ist nicht bekannt. Klar aber ist, dass Syrien voll ist von Europäern, die für Anschläge gewonnen werden können, und dass die technischen Fähigkeiten der jemenitischen al-Qaida in der Welt sind. Von dieser Kombination geht in den nächsten Monaten und Jahren eine konkretere und größere Gefahr für Europa und die USA aus als vom IS.
ist Islamwissenschaftler und arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik.