Zwischenbilanz NSU-Ausschuss: „Blankes Entsetzen“ über „Chaos“
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Wie erfolgreich war die Arbeit des Ausschusses bisher, was ist erreicht worden?
Susann Rüthrich: Für mich wird deutlich, dass die Aufarbeitung weiter nötig ist. Ich meine zu erkennen, dass bei den Behörden - auch wenn sicher viel getan wurde - weiterhin noch nicht die „richtige Brille“ aufgesetzt ist, um die Radikalisierung, die Bedrohung und die konspirative Aktionsweise von Nazis, von rechten Menschenfeinden überhaupt zu erfassen und zu erkennen und entsprechend zu unterbinden. Genau das aber wäre die Aufgabe, um die freiheitliche demokratische Grundordnung umfänglich zu schützen, nämlich inklusive Artikel 1 GG: die Würde des Menschen ist unantastbar.
Uli Grötsch: Zwei Erkenntnisse: Erstens war es richtig, einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag einzurichten. Sich anzusehen, was nach der Selbstenttarnung des NSU passiert ist und was sich seitdem verändert oder nicht verändert hat, ist wichtig. Zweitens: Der vielbesungene Mentalitätswechsel hat aus meiner jetzigen Sicht nicht stattgefunden. Es hat sich seit 2011 nicht viel zum Positiven verändert, sowohl was die Struktur der Neonazi-Szene in Deutschland angeht als auch, was die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden betrifft.
Dazu passen immer neue Veröffentlichungen über Pannen beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), insbesondere im Fall Corelli. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Susann Rüthrich: Wir sind betroffen darüber, in so gut wie jeder Sitzungswoche mit neuen Vorfällen konfrontiert zu sein. Diese spielen eine entscheidende Rolle für den UA, jedoch lassen wir uns davon nicht den Zeitplan diktieren. Was wir allerdings schon sehen: Die Arbeitsorganisation im BfV ist so nicht in Ordnung. Das muss besser werden, um in einem der sensibelsten Bereiche wieder Vertrauen und vor allem verlässliche Arbeit zu gewährleisten.
Uli Grötsch: Es zerstört das Vertrauen, das wir als Parlamentarier in die Arbeit des BfV haben müssen. Uns wird seit 2013 gesagt, dass es im BfV einen Mentalitätswechsel gab. Mein Eindruck ist, dass es eine große Unsicherheit innerhalb der Behörde gibt, das ganze Amt in Aufruhr ist. Für eine Behörde wie das BfV ist das enorm schlecht.
Konnten Sie sich das Ausmaß der Versäumnisse vorher vorstellen?
Susann Rüthrich: Nein, offen gestanden konnte ich mir das so nicht vorstellen. Es ist für mich ein Indiz dafür, dass es auf diese Art und Weise schwer bis unmöglich ist, ein zutreffendes Bild der Bedrohungslage zu haben, selbst wenn die Zulieferungen der V-Personen glaubwürdig und umfassend sein sollten. Wer wertet wie aus, und zwar alles und systematisch? Wer hat die Übersicht über alles gesammelte Wissen? Wer bewertet und was hat das für Folgen? Das würde ich angesichts des Chaos, was in dem einen Fall offenkundig wird, für die Gesamtabteilung mit allen V-Personen gerne wissen.
Uli Grötsch: Es herrscht bei mir inzwischen das blanke Entsetzen darüber, dass wir seit Monaten im Fall Corelli immer wieder mit neuen Umständen konfrontiert werden. Ich frage mich: Was hat sich in der Arbeit mit anderen V-Männern dahingehend ergeben? Herrschen dort dieselben Umstände, oder nicht? Mir fällt es langsam schwer zu glauben, dass der Fall Corelli ein Einzelfall ist.
Welche Konsequenzen müssen daraus folgen?
Susann Rüthrich: Die Konsequenzen muss am Ende das Bundesinnenministerium ziehen. Dort liegt die Dienst- und Fachaufsicht. Und die kann aus meiner Sicht nicht nur „output-orientiert“ sein, sondern muss sich auch auf die internen Abläufe und Prozesse beziehen. Mir erscheint es als zu wenig, hier nur über Personen und deren Verantwortung zu sprechen. Da einzelne Personen eventuell auszuwechseln, wird dem wahrscheinlich strukturellen Problem nicht gerecht.
Uli Grötsch: Ich will vor allem wissen, was die Amtsleitung dafür tut, dass es solche Zustände wie beim V-Mann-Führer von Corelli künftig nicht mehr geben kann. Verantwortlich dafür, dass das anders läuft, ist letztendlich Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Er muss dafür sorgen, dass das BfV auch in der Hausleitung so aufgestellt ist, dass dort in Ruhe der enorm wichtigen Arbeit nachgegangen werden kann.
Stichwort V-Leute: Bisher ist sich der Ausschuss darin einig, keine Informanten zu laden. Bleibt es dabei?
Susann Rüthrich: Darüber ist noch keine endgültige Entscheidung gefallen. In den bisherigen Themenkomplexen erschien es uns noch nicht als zielführend. Das kann sich aber situationsbedingt auch ändern. Dann muss es aber wirklich der Sachaufklärung dienen.
Uli Grötsch: Das Letzte was wir wollen ist, dass der Untersuchungsausschuss eine Bühne für Neonazis wird. Wir laden nur dann V-Leute, wenn wir uns davon neue Erkenntnisse versprechen. Im Moment sehe ich das nicht.
Ein Ausblick: Was erwartet den Ausschuss nach der Sommerpause?
Susann Rüthrich: Ich bin sehr gespannt auf die Gutachten der Sachverständigen von den Tat- und Wohnorten des Trios. Davon verspreche ich mir eine Übersicht und Bündelung verfügbaren Wissens weit über das hinaus, was in Behördenakten steht. So können wir uns anders den neonazistischen, rechten Szenen und deren möglichen Verstrickungen und Kennverhältnissen zum Trio widmen, als es Ermittlungsbehörden derzeit tun und getan haben. Entsprechend hoffe ich, die Fragen, die die Hinterbliebenen so quälen, etwas besser beantworten zu können: Warum ist MEIN Vater/Bruder/Sohn/Tochter (im Fall Kiesewetter) tatsächlich getötet worden? Und gibt es da noch Menschen, die beteiligt waren und die bislang nirgendwo aufgetaucht sind?
Uli Grötsch: Nach der Sommerpause geht es weiter mit den Verantwortlichkeiten der Verfassungsschutzbehörden, in erster Linie mit der Rolle des BfV. Es gibt jede Menge Fragen, die sich seit 2011 beziehungsweise 2013 neu ergeben haben. Diese werden wir stellen. Ich bin überzeugt davon, dass eine enorm interessante Phase auf den Ausschuss zukommt.