Verdachtsfall AfD: Was die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln bedeutet
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Was für ein Chaos: Am Freitagvormittag hat das Verwaltungsgericht (VG) Köln in einem so genannten „Hängebeschluss“ entschieden, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die AfD nun doch nicht als „Verdachtsfall“ einstufen darf. Diese Anordnung soll bis zu einer „Eil“-Entscheidung des VG Köln gelten, die aber erst in einigen Monaten erwartet wird, vielleicht sogar erst nach der Bundestagswahl. Allerdings kann der Verfassungsschutz gegen den Kölner Beschluss noch Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht Münster einlegen. Ob die AfD nun also in den nächsten Monaten als „Verdachtsfall“ gilt oder nicht, wird sich wohl erst in einigen Tagen entscheiden.
Was aber bedeutet eine Einstufung als Verdachtsfall überhaupt? Und welche Folgen hätte sie für Partei und AfD-Mitglieder?
Im Umgang mit (potenziell) verfassungsfeindlichen Parteien gibt es beim Verfassungsschutz drei Verfahrensstadien: den Prüffall, den Verdachtsfall und die gesicherte extremistische Bestrebung. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte die AfD jüngst vom ersten ins zweite Stadium hochgestuft, vom Prüffall zum Verdachtsfall. Ob diese Hochstufung vorläufig Bestand hat, darum wird derzeit vor Gericht gestritten.
Seit zwei Jahren ein „Prüffall“
Seit Januar 2019, also seit mehr als zwei Jahren, galt die AfD auf Bundesebene bereits als Prüffall. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hatte dies offiziell mitgeteilt. Es lägen „erste tatsächliche Anhaltspunkte“ für eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) gerichtete Politik der AfD vor.
Seitdem hat das Bundesamt systematisch öffentliche Quellen ausgewertet, um die AfD genau einschätzen zu können. Die AfD war nun zwar im Blick des Verfassungsschutzes, sie war aber noch nicht „Beobachtungsobjekt“, denn die „Beobachtung“ ist ein Rechtsbegriff, der mit der umgangssprachlichen Beobachtung nur bedingt zu tun hat.
In einer ersten Klage erreichte die AfD im Februar 2019 einen Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts (VG) Köln. Seitdem durfte das BfV die AfD nicht mehr öffentlich als „Prüffall“ bezeichnen. Die AfD blieb zwar Prüffall, dies durfte aber wegen der stigmatisierenden Wirkung nicht mehr öffentlich mitgeteilt werden. Der Grund: Die Kategorie des „Prüffalls‘“ steht nicht im Gesetz, sondern war eine Erfindung des Bundesamts.
Seit Februar ein „Verdachtsfall“
Nach übereinstimmenden Medienberichten von dieser Woche hat das Bundesamt die AfD bereits Ende Februar hochgestuft. Sie galt nun als „Verdachtsfall“. Voraussetzung hierfür war, dass das BfV „hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte“ dafür sieht, dass die AfD-Politik sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richtet.
Von da an galt die AfD nun auch im rechtlichen Sinne als „Beobachtungsobjekt“ des Verfassungsschutzes. Der Beobachtungsfall hat dabei zwei Unterfälle: den Verdachtsfall und die gesicherte extremistische Bestrebung. Alle Beobachtungsobjekte dürfen im jährlichen Verfassungsschutzbericht erwähnt und damit gebrandmarkt werden. Bei Verdachtsfällen muss allerdings klar formuliert werden, dass es sich bisher nur um einen Verdacht handelt. Dies hat das Bundesverfassungsgericht 2005 im Fall der rechten Wochenzeitung „Junge Freiheit“ entschieden.
Außerdem darf der Verfassungsschutz bei Verdachtsfällen auch Personalakten über alle relevanten Mitglieder und Funktionäre anlegen. Und er darf Personen und Gremien mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwachen. Damit ist zum einen die heimliche Überwachung der Telekommunikation (Telefon, E-Mail, Messenger) gemeint, wobei aber jede einzelne Maßnahme von der recht strengen G-10-Kommission des Bundestags genehmigt werden muss. Zum anderen ist damit die Anwerbung und Einschleusung von V-Leuten (Spitzeln) erlaubt. Hierfür ist die G-10-Kommission nicht zuständig und es gibt auch keinen Richtervorbehalt.
Völlig neu wäre eine nachrichtendienstliche Überwachung für die Partei allerdings nicht gewesen. Denn der sogenannte Flügel um den Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke sowie die Jugendorganisation Junge Alternative (JA) gelten schon seit Januar 2019 als Verdachtsfälle und konnten deshalb heimlich ausgeforscht werden. Außerdem hatten schon die Landesämter für Verfassungsschutz in Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen die jeweiligen Landesverbände der Partei als Verdachtsfall eingestuft.
Klage der AfD mit kuriosen Folgen
Weil es schon länger Gerüchte über die Hochstufung zum Verdachtsfall gab, hat die AfD bereits Ende Januar beim Verwaltungsgericht Köln einen Eilantrag gestellt. Das VG solle dem Bundesamt verbieten, die AfD als Verdachtsfall einzustufen oder dies jedenfalls nicht öffentlich machen.
In diesem Rechtsstreit hat das Bundesamt zwei Stillhaltezusagen gegeben. Zum einen versprach das Bundesamt, eine etwaige Hochstufung nicht zu kommunizieren. Zum anderen soll die Hochstufung nicht dazu genutzt werden, Abgeordnete und Wahlbewerber*innen nachrichtendienstlich auszuforschen. Beide Zusagen sollten bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den Eilantrag der AfD gegen die Hochstufung gelten. Also einige Monate lang.
Deshalb entstand ab Mittwoch nun die kuriose Situation, dass die Hochstufung der AfD über Medienberichte zwar bekannt wurde, das Bundesamt aber nichts dazu sagen durfte. Die AfD vermutete sogleich, das Bundesamt habe sie ausgetrickst und die Nachricht informell an die Medien weitergegeben. Das ist aber keineswegs sicher, es gab schließlich noch viele andere Mitwisser, etwa die Landesämter für Verfassungsschutz und das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Nachricht publik wurde.
Doch das VG Köln macht für das Publikwerden der AfD-Hochstufung nun ausschließlich das Bundesamt für Verfassungsschutz verantwortlich. Entweder das Amt habe die Information selbst an die Medien „durchgestochen“ oder es habe nicht ausreichend dafür gesorgt, dass die Hochstufung geheim bleibt. Nunmehr habe das Gericht kein Vertrauen mehr in die Stillhaltezusagen des Bundesamts. Deshalb verbieten die Richter dem Bundesamt nun gleich ganz, die AfD als Verdachtsfall einzustufen oder so zu behandeln. Gut möglich, dass die nächste Instanz in Münster das anders sieht und die AfD dann doch wieder als Verdachtsfall gilt.
Noch keine gesicherte Einstufung
Die Hochstufung zum Verdachtsfall – wenn sie denn kommt – wäre auch noch nicht das Ende der möglichen AfD-Stigmatisierung. Eine nochmalige Hochstufung zur „gesicherten extremistischen Bestrebung“ wäre, wenn die Erkenntnislage klar genug ist, jederzeit durch Entscheidung des Bundesamts für Verfassungsschutz möglich. So wurde zum Beispiel der „Flügel“ ein Jahr nach der Einstufung als Verdachtsfall dann im Februar 2020 als „gesicherte extremistische Bestrebung" benannt. (Er löste sich anschließend zumindest formal auf.)
Auf den ersten Blick würde sich durch eine weitere Hochstufung für die AfD nicht viel ändern. Sie könnte vom Verfassungsschutz weiterhin mit den gleichen Mitteln nachrichtendienstlich überwacht werden. Allenfalls würden die Maßnahmen von der G-10-Kommission etwas leichter genehmigt. Außerdem könnte im Verfassungsschutzbericht dann auf den Zusatz „Verdachtsfall“ verzichtet werden.
Allerdings würde es nun für die AfD doch richtig gefährlich. Denn wenn gesichert ist, dass ihre Bestrebungen „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ gerichtet sind, dann könnte sie auch als Partei verboten werden. Die Maßstäbe sind fast identisch. Allerdings kann über ein Verbot nicht das Bundesamt entscheiden, sondern nur das Bundesverfassungsgericht. Und ein entsprechender Antrag könnte nur von Bundestag, Bundesregierung und/oder Bundesrat gestellt werden. Das gleiche gilt für die 2017 eingeführte Möglichkeit, eine extremistische Partei von der staatlichen Finanzierung auszuschließen.
Doch um was geht es in dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung (fdGO) eigentlich? Früher war dies ein etwas umständlicher Katalog von sieben Punkten – vom Recht, ein Parlament zu wählen bis zur Unabhängigkeit der Gerichte. 2017 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem NPD-Urteil den fdGO-Maßstab aber neu definiert und auf die drei Pfeiler Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde konzentriert. Völkische Konzepte, die nicht den Menschen in den Mittelpunkt stellen, sondern das (ethnisch rein konzipierte) Volk, sind danach verfassungswidrig. Zumindest Teile der AfD denken in solchen völkischen Kategorien.
Folgen für AfD-Mitglieder und -Funktionär*innen
Als der Verfassungsschutz die AfD Anfang 2019 zum Prüffall erklärte, gab Innenminister Horst Seehofer (CSU) seinen Fachleuten im Ministerium den Auftrag, die Folgen für AfD-Mitglieder darzustellen, die als Beamte beim Bund arbeiten. Zwei Monate später erhielt der Minister ein knappes achtseitiges Gutachten mit folgenden Kernaussagen:
- Solange die AfD als Prüf- oder Verdachtsfall eingestuft wird, ist die bloße Mitgliedschaft in der AfD „beamtenrechtlich ohne Relevanz“.
- Wenn die AfD allerdings als gesichert verfassungsfeindliche Bestrebung eingestuft wird, kann dies für AfD-Mitglieder die Einstellung in den öffentlichen Dienst verhindern.
- Bei AfD-Mitgliedern, die bereits Beamte sind, kann die Übernahme „herausgehobener Funktionsämter“ in der AfD oder von „Wahlkandidaturen“ für die AfD zu Disziplinarverfahren und letztlich zur Entlassung führen.
Seehofer wollte mit diesem Recherche-Auftrag an sein Haus natürlich nicht nur sein Fachwissen erhöhen, sondern auch die Beamt*innen unter den AfD-Mitgliedern aufrütteln. Gelungen ist ihm dies insofern, als sich Teile der Partei um den zuvor eher indifferenten Vorsitzenden Jörg Meuthen nun explizit um eine Ausgrenzung offen extremistischer AfD-Teile bemühen. Allerdings hat Seehofers “Zeigen der Instrumente“ die weitere Radikalisierung der AfD bisher nicht verhindern können.
Der emeritierte Rechtsprofessor Dietrich Murswiek hat 2018 für die AfD ebenfalls ein Gutachten zu den Folgen einer Verfassungsschutz-Beobachtung erstellt, das nun natürlich an Bedeutung gewinnt. Darin empfiehlt Murswiek AfD-Beamt*innen zwar nicht den Austritt, aber doch große Vorsicht. Die Beamten sollen sich – erstens – von den verfassungsfeindlichen Kräften in der Partei „entschieden abgrenzen“. Sie sollen sich – zweitens – „für eine verfassungsmäßige Ausrichtung der Partei“ einsetzen. Und vor allem sollten sie – drittens – all das genau dokumentieren, „so dass gegebenenfalls ein Nachweis gegenüber dem Dienstherrn und Gerichten möglich ist“.
Deshalb werden zumindest die AfD-Mitglieder das Tauziehen um die vorläufige „Verdachtsfall“-Einstufung mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.