Urteil im Lübcke-Prozess fällt nicht mehr vor Weihnachten
imago images/Hartenfelser
Die ganze Wahrheit sollte es sein, endlich. So hatte es sich Irmgard Braun-Lübcke, die Witwe des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten, nach ihrer Zeugenaussage vor zweieinhalb Wochen fast flehentlich von den Angeklagten gewünscht. Und so wiederholt sie es, an die Adresse von Stephan E. gerichtet, am Donnerstag noch einmal, noch eindringlicher. „Ich bitte Sie ganz inständig: Wenn Sie uns helfen wollen, das zu verarbeiten, dann beantworten Sie unsere Fragen präzise“, sagt die 67-Jährige mit bebender Stimme. „Wir wollen die Wahrheit, die volle Wahrheit. Wie es wirklich war.“
E.sagt nichts, was er nicht schon gesagt hätte
Stephan E., der mutmaßliche Mörder ihres Mannes, hat seine Anwälte im Prozess vor dem Frankfurter Oberlandesgericht mehrfach beteuern lassen, alle Fragen der Familie beantworten zu wollen. Nun, da es so weit sein soll, verliest er erst einmal eine vorbereitete Einlassung. „Ich möchte zu Anfang sagen, dass diese furchtbare Tat und dieses unermessliche Leid nicht wiedergutzumachen ist“, beginnt er. Dann bekräftigt er seinen Willen, sich über ein Aussteigerprogramm von rechtsextremer Ideologie zu distanzieren, und arbeitet sieben Fragen zur Tatnacht ab, die ihm Braun-Lübcke bei ihrem Appell im November spontan gestellt hatte. „Das waren die Fragen“, beendet er seinen Vortrag. Gesagt aber hat er nichts, was er nicht schon zuvor gesagt hätte. Stephan E. bekräftigt seine vor Gericht präsentierte Tatversion, dass er den Mord gemeinsam mit dem Mitangeklagten Markus H. begangen hat.
„Ist es wirklich wahr“, wird die Witwe später noch einmal nachfragen, „dass mein Mann in der letzten Sekunde seines Lebens in das Gesicht von H. geschaut hat?“ – „Ja.“ – „Wirklich?“ – „Ja“, sagt Stephan E. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits wieder ganz gefasst, antwortet auf Nachfragen so nüchtern, wie er das immer getan hat, wenn es um den Mord ging. Zunächst aber, beim Verlesen seiner vorbereiteten Erklärung, liefert er einen erstaunlich anderen Auftritt ab. Immer wieder unterbricht er sich, macht lange Pausen, in denen nur sein Schniefen zu hören ist. Es scheint, als wolle er demonstrativ den psychiatrischen Gutachter Norbert Leygraf Lügen strafen, der ihm Empathielosigkeit bescheinigt hat. Doch ungewollt bestätigt er, was Leygraf ebenfalls gesagt hat: dass Emotionen bei Stephan E. stets „wie angeknipst und ausgeknipst“ wirken.
Auch bei mancher Nachfrage, in der Stephan E. mit Widersprüchen und Ungereimtheiten konfrontiert wird, zeigt sich: Der Angeklagte verfolgt das Prozessgeschehen sehr aufmerksam und passt seine Angaben entsprechend an. Der Senat zieht daraus schließlich eine Konsequenz, die den Prozess erheblich verlängern dürfte. „Wir bekommen immer wieder situativ angepasste Einlassungsfetzen zu hören“, sagt der Senatsvorsitzende Thomas Sagebiel. Deshalb wolle man Stephan E. noch einmal umfangreich zum Ablauf der Tat befragen. Ein Urteil noch in diesem Jahr sei damit endgültig vom Tisch.
Die Akten des Ex-Verteidigers
Dafür ging etwas anderes unerwartet schnell. Nachdem am vorangegangenen Verhandlungstag erneut über eine Beschlagnahmung der Handakten von Ex-Verteidiger Frank Hannig diskutiert worden war, machte der Senat umgehend Nägel mit Köpfen und stellte die Unterlagen sicher. Die Sichtung nach Inhalten, für die der Angeklagte seinen einstigen Anwalt von der Schweigepflicht entbunden hat, förderte indes nicht allzu viel zu Tage. Immerhin: In den Notizen, die sich Hannig über Gespräche mit dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder gemacht hat, ist durchgängig davon die Rede, dass beide Angeklagte am Tatort gewesen seien. Und glaubt man diesen Aufzeichnungen, dann nahm Stephan E. den tödlichen Schuss in diesen Gesprächen schon anfangs auf sich – um dann irgendwann umzuschwenken auf die Version, dass nicht er, sondern Markus H. den CDU-Politiker erschossen habe, aus Versehen.
Stephan E. behauptet weiterhin, dass dieses im Ermittlungsverfahren abgelegte falsche Geständnis eine Erfindung von Hannig gewesen sei – was dem Anwalt seinerseits ein Ermittlungsverfahren eingebrockt hat. Die Handakten sprechen jedoch eine andere Sprache. „Der verarscht uns“, hat jemand handschriftlich an den Rand geschrieben. Und: Der Mandant müsse „noch mal belehrt werden, dass wir nichts dafür können, wenn er hier Scheiße labert.“ Aber wer das war und vor allem wann, lässt sich nicht mehr feststellen. Oder wie es Richter Sagebiel in gewohnter Deutlichkeit ausdrückt: „Eine Handakte kann man frisieren.“
Der Mitangeklagte Markus H. könnte wieder in den Fokus rücken
Steht Stephan E. nun glaubwürdiger da? Oder unglaubwürdiger? Bei der Verteidigung des Mitangeklagten Markus H. jedenfalls wächst spürbar die Unruhe, dass ihr Mandant, der eigentlich schon einem sicheren Freispruch vom Vorwurf der Beihilfe entgegensah, wieder stärker in den Fokus geraten könnte. Aggressiv, doch vergeblich versucht Anwältin Nicole Schneiders hinauszuzögern, dass ein Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs berichtet, wie er Markus H. bei der Haftbefehlseröffnung erlebt hat: bemerkenswert cool nämlich, fast überheblich und absolut unbeeindruckt davon, dass er gerade im Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen worden war, begleitet von maskierten SEK-Polizisten in Kampfmontur.
Provokant soll sich der 44-Jährige erkundigt haben, warum gegen ihn denn nicht auch wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ermittelt werde. „Das hat mich völlig überrascht“, erinnert sich der Jurist, „diese Kälte und Abgeklärtheit, mit der mir der Angeklagte gegenüber getreten ist.“ Mir kann hier keiner was: Das ist die Haltung, die Markus H. seit jetzt 35 Verhandlungstagen auch vor Gericht zur Schau trägt.
arbeitet als freier Journalist in Kassel und Hamburg. Einer seiner Schwerpunkte ist dabei die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten.