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Untergetauchte Nazis: Droht Deutschland ein zweiter NSU?

Hunderte Rechtsextreme werden in Deutschland per Haftbefehl gesucht, befinden sich auf der Flucht vor der Polizei. Experten sehen die Zahl mit Sorge und erinnern an das vielleicht dunkelste Kapitel der Nachkriegsgeschichte.
von Robert Kiesel · 15. Januar 2016
NSU-Untersuchungsausschuss
NSU-Untersuchungsausschuss

14 Jahre Untergrund, zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Banküberfälle: So lautet die Bilanz der bislang schwersten von Rechtsextremen begangenen Terrorserie in der Bundesrepublik Deutschland. Nach der Enttarnung der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) war klar: So etwas darf nie wieder passieren, terroristische Untergrundstrukturen müssen aufgedeckt und trockengelegt werden.

Drastischer Anstieg untergetauchter Rechtsextremisten

Besonders weit scheinen die Sicherheitsbehörden dabei nicht gekommen zu sein. Eine Anfrage der Grünen-Politikerin Irene Mihalic deckt auf: Aktuell sind in Deutschland 372 der rechten Szene zugeordnete Personen für die Polizei nicht greifbar, gegen sie liegen mehr als 450 Haftbefehle vor, allesamt unvollstreckt. Zum Vergleich: Im Jahr 2014 suchte die Polizei nach 268 rechtsextremen Straftätern. Die Zahl der Untergetauchten hat sich demnach drastisch erhöht.

Eine Tatsache, die nicht nur aufgrund der zahlreichen Gewalttaten von Rechtsextremen gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte beunruhigen sollte. Szenekenner und Politiker halten es für möglich, dass sich im Untergrund neue Gruppen wie der NSU formieren.

Wo sind die Lehren aus dem NSU?

„Die gestiegene Zahl der offenen Haftbefehle gegen rechte Straftäter ist erschreckend und für mich nicht nachvollziehbar. Das ist gerade vor dem Hintergrund des NSU-Skandals ein verheerendes Signal, das von den Polizeien der Länder ausgeht“, erklärt dazu Uli Grötsch. Er sitzt für die SPD im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags und fordert: „Insbesondere die Täter, deren Haftbefehl auf politisch motivierter Gewaltkriminalität beruht, müssen mit sehr hohem Fahndungsdruck verfolgt werden.“ Laut Antwort der Bundesregierung trifft das auf 70 der 372 gesuchten Personen zu.

Genau wie Grötsch zeigt sich auch Susann Rüthrich besorgt über die Masse untergetauchter Rechtsextremisten. Die Sprecherin der AG Rechtsextremismus in der SPD-Bundestagsfraktion forderte mit Blick auf die jüngsten Krawallen in Leipzig-Connewitz: „Wir müssen aus den Erkenntnissen rund um den NSU endlich die Lehre ziehen: ‚Lieber einmal zu viel draufgeschaut, als Gewalttätern die Chance auf Narrenfreiheit geben.’“ Mehmet Daimagüler, Nebenklage-Vertreter im NSU-Prozess, sagte der Frankfurter Rundschau: „Es heißt doch immer: Wir haben aus dem NSU gelernt. Und da frage ich mich schon: Was genau haben wir gelernt? Offenbar haben wir nicht gelernt, die Gefahr rechtsextremistischen Terrors ernst zu nehmen. Es ist wie vorher. Man tut so, als hätten wir kein Problem an der Stelle.“

Versäumnisse vergrößert statt nachgeholt

Besorgt zeigt sich auch Robert Andreasch. Der Journalist verfolgt für den Blog NSU Watch den in München laufenden NSU-Prozess. Er erklärt: „Die wichtigste Frage ist doch, ob die Personen wegen der gegen sie ausgestellten Haftbefehle untergetaucht sind oder, um aus dem Untergrund heraus weitere Straftaten zu begehen.“ Letzteres war beim NSU der Fall. Darin könne die Parallele zur jetzigen Situation liegen. In Bezug auf den drastischen Anstieg der untergetauchten Rechtsextremen sagte Andreasch: „Die durch die Enttarnung des NSU deutlich gewordenen Versäumnisse sind nicht nachgeholt, sondern eher noch größer geworden.“

Autor*in
Robert Kiesel

war bis März 2018 Redakteur des vorwärts.

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