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„Unter Sachsen“: Auf der Suche nach dem Warum

Auf den ersten Blick unterscheidet sich Sachsen nicht wesentlich von anderen Bundesländern. Dennoch grassieren gerade im Freistaat Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Das Buch „Unter Sachsen“ macht sich auf die Suche nach den Wurzeln der „sächsischen Verhältnisse“.
von Robert Kiesel · 15. März 2017
Cover von „Unter Sachsen“
Cover von „Unter Sachsen“

Warum Sachsen? Wer aufmerksam die Nachrichten verfolgt, hat sich diese Frage zuletzt sicher häufiger gestellt. Nach Blockaden ankommender Flüchtlinge und gewaltsamen Attacken auf deren Unterkünfte beispielsweise, oder nach tätlichen Attacken auf  Flüchtlinge und deren Helfer. Immer und immer wieder sorgte Sachsen für nationale wie internationale Schlagzeilen. Der (Image-)Schaden für das Bundesland ist riesig und nicht wenige der im Freistaat untergebrachten Flüchtlinge wollen vor allem eines: Raus aus Sachsen.

Sachsen: Bundesweit Spitze bei fremdenfeindlicher Gewalt

Mit ihrem Buch „Unter Sachsen“ versuchen die Herausgeber Heike Kleffner und Matthias Meisner, Antworten zu finden oder zumindest Anhaltspunkte zu liefern, die bei der weiteren Suche nach dem „Warum?“ hilfreich sind. Dabei haben die beiden Journalisten, die seit Beginn der 90er Jahre einen wachen Blick auf das Bundesland im Osten Deutschlands werfen, fachkundige Unterstützer um sich gescharrt. 40 Autorinnen und Autoren haben sie für „Unter Sachsen“ gewinnen können.

Deren Themen sind so vielfältig wie die Probleme des Freistaats. Von AfD bis NSU, von Crystal Meth bis zu Döner-Nazis reicht das Spektrum der Beiträge von Journalisten und Experten, die allesamt eine Frage antreibt: Warum geht das Erstarken des Rechtspopulismus gerade in Sachsen mit einer Zunahme rechter Gewalt einher, die in ihrem Ausmaß einzigartig ist? Allein im Jahr 2015 hatte es dort 477 fremdenfeindlich motivierte Gewalttaten gegeben – täglich eine, mindestens. In Bezug auf die Einwohnerzahl liegt Sachsen damit bundesweit an der Spitze.

Schulterschluss zwischen „besorgten Bürgern“ und Neonazis

Eine der Antworten gibt Meisner gleich selbst. Unter dem Titel „Die Relativierer“ setzt er sich mit dem Kurs der „Dauer-Verharmlosung des Rechtsextremismus“ durch die seit der Wiedervereinigung regierende CDU in Sachsen auseinander. Deren „relativieren, negieren, wegsehen“-Strategie setze sich bis zum heutigen Tag fort, so Meisner. Die „Biedenkopf-Doktrin“ des „immunen“ Freistaats gegen Extremisten von Rechts hielten gewichtige Teile der Partei noch heute für gültig. „Links da steht der Feind. Rechts – da geht es aus Sicht der CDU in Sachsen um Wählerstimmen“, zitiert Meisner den Grünen Hubertus Grass. Beispiele wie den Twitter-Eintrag der Leipziger CDU-Bundestagsabgeordneten Bettina Kudla zur vermeintlichen „Umvolkung“ Deutschlands muss niemand lange suchen.

Andere Autoren wie der FAZ-Journalist Stefan Locke oder der Rechtsextremismus-Experte Michael Nattke versuchen zu klären, warum gerade in Sachsen Berührungsängste zwischen organisierten Neonazis und „besorgten Bürgern“ scheinbar nicht existieren. Was 2013 mit durch NPD-Strukturen organisierten „Lichtelläufen“ gegen die Unterbringung von Flüchtlingen im Erzgebirgsort Schneeberg begann, funktionierte alsbald im ganzen Land. Das in allen anderen deutschen Großstädten gescheiterte Pegida-Bündnis trifft sich in Dresden noch immer jeden Montag zum „Spaziergang“. Die Gründe dafür untersucht „Unter Sachsen“ ebenso wie die Ursachen dafür, dass es im 100 Kilometer entfernten Leipzig eben nicht der Fall ist.

Willkommen statt Wut

Neben all der Wut und den Folgen einer von Angst vor Fremden geprägten „Wagenburg-Mentalität“ beschäftigt sich „Unter Sachsen“ aber auch mit der anderen, der Willkommen-Seite. Kleffner und Meisner lassen Menschen zu Wort kommen, die sich gegen die zum Eigenbegriff gewordenen „sächsischen Verhältnisse“ zur Wehr setzen. Menschen wie Johannes Filous und Alexej Hock, die mit ihrem Twitter-Projekt „Straßengezwitscher“ überall dort vor Ort sind, „wo es brennt“. Ihrem als Gegenstück zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gegründetem Profil folgen mittlerweile mehr als 22.000 Menschen. 2016 wurde den beiden Aktivisten der Grimme Online Award verliehen.

Ein Akt der Solidarität, den viele aktive Demokraten in Sachsen verdient haben. Ihr täglicher, an die persönliche Substanz gehender Einsatz für die Menschlichkeit ist es, der ein Buch wie „Unter Sachsen“ notwendig macht. „Es konnte kein bequemes Buch werden“, schreiben Kleffner und Meisner als ersten Satz in ihrem Vorwort. Ein bequemes Buch über Sachsen, es hätte niemandem geholfen. 

Heike Kleffner und Matthias Meisner: Unter Sachsen - Zwischen Wut und Willkommen, 312 Seiten, Christopher Links Verlag, ISBN 978-3-86153-937-7, 18 Euro.

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Autor*in
Robert Kiesel

war bis März 2018 Redakteur des vorwärts.

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