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Susann Rüthrich: Warum sie in Sachsen blieb und dort bis heute gegen Rechts kämpft

Als die Mauer fiel, war Susann Rüthrich zwölf Jahre alt. Doch während hunderttausende junge Frauen in den Westen gingen, blieb sie in Sachsen. Bis heute kämpft die SPD-Bundestagsabgeordnete dort gegen Rechts. In der SPD-Bundestagsfraktion ist sie Sprecherin der Arbeitsgruppe Strategien gegen Rechtsextremismus.
von Jonas Jordan · 15. November 2019
Susann Rüthrich ist SPD-Bundestagsabgeordnete aus Sachsen.
Susann Rüthrich ist SPD-Bundestagsabgeordnete aus Sachsen.

In diesen Tagen jährt sich der Mauerfall zum 30. Mal. Sie waren damals zwölf Jahre alt. Wie haben Sie den 9. November 1989 erlebt?

Susann Rüthrich: Ab dem Sommer 1989 haben viele Freunde meiner Eltern das Land verlassen. Auch meine beiden Halbbrüder sind schon vorher in den Westen abgehauen. Man merkte, es passiert etwas. In der Nacht, als die Mauer gefallen ist, habe ich natürlich nichts davon mitbekommen, aber ab dem nächsten Tag waren alle in heller Aufregung. Da war allen klar, dass es das Ende der DDR ist. Mich hat das total geprägt. Es hat dazu geführt, dass ich später mal Politikwissenschaft studiert habe, weil ich verstehen wollte, was es mit den unterschiedlichen politischen Systemen auf sich hat.

Wann waren Sie das erste Mal in Westdeutschland?

Wir sind im Winter 1989/90 mit dem Auto nach Hof gefahren und wurden gleich von einer westdeutschen Familie in ein chinesisches Restaurant eingeladen. Es gab Lidschis und gebackene Bananen. Das kannte ich gar nicht. Ich fand es toll.

Wie haben Sie die Zeit nach 1990 erlebt, als es das Land, in dem Sie 13 Jahre lang aufgewachsen sind, plötzlich nicht mehr gab?

Die Euphorie hat gar nicht so lange angehalten. Ganz schnell hat sich das in eine gewisse Orientierungslosigkeit gewandelt. Gerade wenn man selbst ins Teenageralter kommt und nur von Erwachsenen umgeben ist, die auch nicht wissen, wie es weiter geht und was ihre neue Rolle sein kann. Auch Lehrerinnen und Lehrer wussten nicht mehr, was sie den Schülerinnen und Schülern empfehlen sollten. Das hat viele sehr geprägt. Es war erst einmal eine Phase der totalen Unsicherheit. Für uns als Dritte Generation Ost gingen viele Türen auf, aber unsere Eltern konnten uns nicht beraten, durch welche sie gehen würden. Sie wussten ja selbst nicht, was dahinter sein könnte.

Hat die Nachwendezeit für die sogenannte Dritte Generation Ost zu einer besonderen Drucksituation geführt?

Als Dritte Generation Ost sind wir eigentlich für drei Generationen gleichzeitig verantwortlich. Wir sollen uns selbst versorgen können, sollen Kinder bekommen, die wir auch versorgen sollen, und haben gleichzeitig eine Elterngeneration, die keine Rücklagen bilden konnte und sehr häufig in Altersarmut lebt. Sie können nicht ihre Enkel und uns unterstützen, weil sie nicht über Jahrzehnte Zeit hatten, sich mit einem ordentlichen Job Rücklagen zu erarbeiten. Das löst enormen Druck aus. Man sieht es auch an der relativ prekären Zivilgesellschaft.

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Hunderttausende junge Frauen sind nach 1990 aus dem Osten abgewandert. Was hält Sie bis heute dort?

Ich habe mich ziemlich schnell bei den Jusos, bei den Falken und in Vereinen engagiert. Wir haben das Netzwerk für Demokratie und Courage bei uns gegründet. Ich hatte hier immer genug zu tun und den Eindruck, dass ich gebraucht werde beziehungsweise mich nützlich machen kann. Ich konnte mich mit sehr tollen Leuten gesellschaftlich engagieren. Deswegen kam ich gar nicht groß auf den Gedanken wegzuziehen.

In den sozialen Netzwerken lief in den vergangenen Wochen unter dem Hashtag #baseballschlägerjahre eine Diskussion, in der Menschen ihre Erfahrungen mit Rechten aus den 90er-Jahren schilderten. Gab es für Sie ein prägendes Erlebnis?

Bei mir in der Schule waren alle stolz, Deutsche zu sein. Wir waren drei sogenannte Zecken. Die Nazis haben uns persönlich nichts getan, aber die vorherrschende Haltung war, dass es cool ist, rechts zu sein. Als die rechtsextreme Wiking-Jugend verboten wurde, tauchten Fotos auf, auf denen einer meiner Klassenkameraden ein Transparent hielt. Er schien auf den ersten Blick harmlos und kümmerte sich um den Schulgarten, war aber ein überzeugter Nazi. Diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich mich antirassistisch engagiert habe.

Mit Blick auf die Landtagswahlergebnisse ist es momentan wieder ein beliebtes westdeutsches Narrativ, zu sagen, die im Osten seien alle rechts. Machen es sich die Westdeutschen damit zu einfach oder ist der Kampf gegen Rechts tatsächlich ein spezifisch ostdeutsches Problem?

Wenn man sich die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung anschaut, stellt man fest, dass die rechten Einstellungen grundsätzlich überall da sind. In Westdeutschland ist vielleicht die Bereitschaft, rassistischen Aussagen zu widersprechen, größer. Ich habe hier Lehrerinnen und Lehrern getroffen, die sagen: ‚Ich bin ja nur der Mathelehrer. Mich geht das nichts an.‘ Die Bereitschaft, rechtes Gedankengut zu akzeptieren, ist teilweise schon sehr hoch. Da gibt es die Vorstellung einer homogenen Gesellschaft, in der diejenigen, die anders aussehen selbst schuld sind, wenn sie Probleme bekommen. So fühlen sich Nazis als Vollstrecker dieser Haltung. Jetzt haben sie mit der AfD ihren politischen Arm gefunden. Sie agieren in Sachsen ähnlich wie die NPD früher, aber mit dem Unterschied, dass sie teilweise für bis zu 30 bis 40 Prozent der Gesellschaft wählbar sind.

Ist das ein Stadt-Land-Problem?

Selbst in Dresden in der Neustadt haben teilweise mehr als 20 Prozent die AfD gewählt. Nicht umsonst laufen die Pegidisten seit Jahren montags durch Dresden. Umgekehrt gibt es auf dem Dorf auch sehr progressive Leute, die niemals auf die Idee kämen, irgendeinen Menschen abwerten zu wollen. Man darf die Schablone nicht zu grob legen nach dem Motto ‚Auf dem Land wohnen die ganzen Rassisten und in der Stadt sind alle gut‘. Das stimmt so auf jeden Fall nicht.

Wie sähe für Sie das ideale Sachsen aus, in dem die AfD wieder unter fünf Prozent landen würde?

Ich wünsche mir, dass die guten und engagierten Leute zueinander finden und sprachfähiger werden, weil sie merken, dass sie nicht alleine sind. Wir müssen die Rahmenbedingungen für Engagement schaffen, auch an Schulen. Wir sind in Deutschland zwar PISA-Sieger, aber nur weil der Fokus auf den MINT-Fächern liegt, überspitzt gesagt. Dann haben wir am Ende zwar super Ingenieure, die aber montags mit Pegida auf die Straße gehen, weil sie sich überhaupt nicht zurecht finden in der Gesellschaft. Meine Hoffnung ist, dass wir demokratisierter aus dieser Drucksituation herauskommen und das Ruder wieder herumreißen können. Dann merken vielleicht auch die 30 Prozent, die jetzt AfD gewählt haben, dass die Welt doch nicht dem Untergang geweiht ist.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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