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„Sturm auf den Reichstag“: „Das war eine Aktion mit Ansage.“

Für den Rechtsextremismus-Experten Matthias Quent war die Erstürmung der Treppen am Reichstag keine Überraschung. „Für den systemfeindlichen Teil der Coronaleugner war das ein großer Triumph“, sagt er im Interview. Die Ereignisse könnten zu einer weiteren Radikalisierung führen.
von Kai Doering · 31. August 2020
Corona-Leugner*innen am Reichstagsgebäude in Berlin. Für Rechtsextreme sind das Bilder des Triumphes, sagt Rechtsextremismus-Experte Matthias Quent.
Corona-Leugner*innen am Reichstagsgebäude in Berlin. Für Rechtsextreme sind das Bilder des Triumphes, sagt Rechtsextremismus-Experte Matthias Quent.

Die Ereignisse am Reichstagsgebäude am Samstag haben viele schockiert und empört. War das aus Ihrer Sicht eine spontane Aktion oder geplant?

Die Erstürmung der Treppen am Reichstag war eine Aktion mit Ansage. Spontan war höchstens, dass die Situation, die sich geboten hat, genutzt wurde. In rechten Gruppen und Foren im Internet wird schon seit Jahren zu solchen Aktionen aufgerufen, bis hin zu schlimmerem. Es hat mich deshalb auch sehr überrascht, dass nur drei Polizisten vor dem Eingang gestanden haben, um das Gebäude zu schützen.

Welche Wirkung haben Bilder wie die der Reichsflagge vor dem Parlament in Kreisen von Rechtsextremen und Reichsbürgern?

Für Rechtsextreme sind das Bilder des Triumphes, auf die man in diesen Kreisen sehr stolz ist. In Organisationsgruppen für die Demonstration war schon im Vorfeld von einem „Endspiel“ die Rede. Nicht umsonst wurde die Demo ja auch als „Sturm auf Berlin“ beworben. Die Strategie ist eindeutig: Die Proteste, die vorher dezentral im ganzen Land stattgefunden haben, sollen sich auf Berlin als Sitz der Regierung und des Parlaments konzentrieren. Im Internet wird schon länger über den Sturz der Regierung und über das, was nach dem „Tag X“ kommt, sinniert. Die Bilder vom Samstag geben diesen Bestrebungen Rückenwind, weil sie zeigen, dass man „das System“ besiegen kann. Insofern war der Samstag für den systemfeindlichen Teil der Coronaleugner ein großer Triumph. Auf der anderen Seite können die Bilder aber auch Rückschlageffekte mit Blick auf andere Demonstranten haben.

Inwiefern?

Die Provokationen und die Systemfeindlichkeit haben sich bisher vor allem im Verborgenen abgespielt. Am Samstag sind sie nun offensichtlich geworden. Die entscheidende Frage wird sein, wie die Öffentlichkeit damit umgeht.

Auch nach den Ereignissen am Samstag wird gefordert, man dürfe nicht alle Demonstrant*innen über einen Kamm scheren und müsse die Kritik der breiten Masse ernst nehmen. Ist das die richtige Art des Umgangs oder spielt das den Rechten weiter in die Hände?

Zunächst bräuchten wir eine wissenschaftliche Klärung der Frage, wie groß der Anteil derjenigen eigentlich ist, die nicht systemfeindlich gesinnt sind. Wenn in Chatgruppen mit 150.000 Mitgliedern zum Umsturz aufgerufen wird und niemand widerspricht, stellt sich schon die Frage, ob unter den 36.000 Demonstranten in Berlin die Antidemokraten nicht doch die Mehrheit sind und die viele Sympathien für Aktionen wie die am Reichstag haben. Eine Forsa-Befragung hat ergeben, dass nur neun Prozent der Bevölkerung Verständnis für die Anti-Corona-Demos haben. Bei Pegida waren es Am Anfang 29 Prozent. Insofern erscheint mir die Gruppe derjenigen, die sich da in Berlin getroffen hat, recht isoliert, aber auch radikalisiert zu sein. In der Tendenz ist sie reaktionär und rechtsradikal. Nicht umsonst haben die Demos unter AfD-Anhängern die höchsten Zustimmungswerte. Und die Partei hat auch zur Teilnahme aufgerufen.

Sie haben bereits vor der Demonstration vor einem „Chemnitz 2.0“ gewarnt. Was befürchten Sie?

Die Proteste in Chemnitz vor zwei Jahren waren eine Zäsur. Dort gab es erstmals offen den Schulterschluss zwischen Rechtsradikalen, Rechtspopulisten und sogenannten besorgten Bürgern. In der Folge kam es zu massiven Radikalisierungsprozessen. Der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke hat gesagt, er habe nach Chemnitz entschieden, seine Tat zu begehen. Solche Bestätigungsereignisse können Prozesse enorm beschleunigen. Neben der Radikalisierung im Internet manifestiert sie sich nun auch auf der Straße. Zudem verschwimmen die Grenzen immer mehr. Man könnte von einer Querfont von Hare-Krishna-Jüngern bis hin zu Adolf-Hitler-Fans sprechen. Das kann am Ende auch wieder in die Gesellschaft hineinwirken.

Was sollten Politik und Sicherheitsbehörden aus den Vorkommnissen am Samstag lernen?

Zunächst sollte der Verfassungsschutz selbstkritisch seine Äußerungen hinterfragen, die Demonstrationen seien nicht von Rechtsextremen beeinflusst. Das ist am Samstag eindrücklich widerlegt worden – nicht nur durch die Aktion am Reichstag, sondern auch dadurch, dass überall bei den Demos Reichsflaggen zu sehen waren. Und auch diejenigen, die maßgeblich zur Demo mobilisiert haben, kamen klar aus dem rechten Spektrum. Die Erfahrung zeigt, dass diese Kräfte die Proteste prägen können, selbst wenn sie nicht in der Mehrheit sind. Der zweite Punkt ist der aus meiner Sicht völlig unverhältnismäßige Einsatz der Polizei. Wenn 36.000 Menschen demonstrieren, von denen man weiß, dass sie sich nicht an Auflagen halten wollen, kann man nicht nur 3000 Polizeibeamte aufstellen.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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