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So tickt Stephan E., der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke

Der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke muss sich nicht nur auf lebenslange Haft, sondern auch auf Sicherungsverwahrung einstellen. Der psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf hält Stephan E. für schuldfähig – und fest in seinem rechtsextremen Weltbild verhaftet.
von Joachim F. Tornau · 19. November 2020
Der Angeklagte Stephan E. wurde am Donnerstag vom Psychiater Norbert Leygraf begutachtet.
Der Angeklagte Stephan E. wurde am Donnerstag vom Psychiater Norbert Leygraf begutachtet.

Es wäre zu verstehen gewesen, wenn sich Stephan E. einfach nur davor drücken wollte, die folgenschweren Worte des Psychiaters zu hören. Er sei heute verhandlungsunfähig, ließ der Hauptangeklagte im Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten und den Mordversuch an einem irakischen Geflüchteten seine Verteidiger am Donnerstag kundtun. Wegen Kopfschmerzen und allgemeiner Mattigkeit könne er sich nicht konzentrieren, möglicherweise habe er sich sogar mit Corona infiziert. Fast zwei Stunden, etliche juristische Schaukämpfe und eine medizinische Untersuchung später, für die der psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf kurz in die Rolle des Arztes schlüpfte, befand der Staatsschutzsenat des Frankfurter Oberlandesgerichts jedoch: alles halb so wild. Und Stephan E. blieb das vernichtende Urteil des Sachverständigen nicht erspart.

Leygraf, 67 Jahre alt und von schier unerschütterlicher Gelassenheit, ist einer der erfahrensten und renommiertesten Gerichtspsychiater dieses Landes. Er hat einen der Geiselnehmer von Gladbeck ebenso begutachtet wie einen Terrorhelfer des 11. September 2001, er war am Münchner NSU-Prozess beteiligt und zuletzt am Prozess gegen den rechtsextremen Attentäter von Halle. Nun also sollte er erklären, wie der Kasseler Neonazi Stephan E. tickt, der mit seinen so wortreichen wie widersprüchlichen Einlassungen bislang mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben hat.

Stephan E.: schuldfähig und ohne echte Reue

Neun Stunden habe er mit dem Angeklagten gesprochen, berichtete Leygraf, doch nie habe er dabei den Eindruck eines wirklich offenen Gesprächs gehabt. „Es erschien wie ein Versuch, mit möglichst vielen Worten möglichst wenig preiszugeben.“ Sehr kontrolliert und nahezu ohne jede Emotion. Die Tränen, die Stephan E. bei seinen Vernehmungen und auch vor Gericht gezeigt hat, die mit erstickter Stimme vorgetragenen Reuebekundungen wollte ihm der Psychiater nicht recht abnehmen. Gefühlsäußerungen seien bei dem 47-Jährigen „wie angeknipst und ausgeknipst“.

„Nach außen erscheint er emotional kühl, unbewegt und wenig empathisch, innerlich aber empfindsam gegenüber persönlichen Kränkungen“, sagte der Sachverständige. Der Angeklagte sei ein Einzelgänger ohne echte Freunde, er zeige schizoide Persönlichkeitszüge. Aber den Grad einer forensisch relevanten Persönlichkeitsstörung erreiche das nicht. Auch sonst, erklärte Leygraf, lasse sich nichts feststellen, was die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei der Tat hätte beeinträchtigen können. Keine hirnorganischen Störungen, keine schizophrene oder manisch-depressive Psychose, nicht einmal Alkoholkonsum.

Unabhängig von Mitangeklagten Neonazi

Und was ist mit der Beziehung zum Mitangeklagten Markus H., den Stephan E. als Ideengeber, Drahtzieher und Mittäter des Anschlags darstellt, als seinen „Mentor“, von dem er „emotional abhängig“ gewesen sei? Da gebe es, wenn denn stimme, was der Angeklagte sage, allenfalls eine „Asymmetrie“ in der Freundschaft, sagte Leygraf. Nichts deute darauf hin, dass Stephan E. eine abhängige oder auch nur leicht beeinflussbare Persönlichkeit sein könnte, im Gegenteil: „Ich hatte eher den Eindruck, dass er sein Leben nach eigenen Kriterien ausrichtet und sich nicht von Gefühlen und Gedanken anderer beeinflussen lässt.“    

Sollte das Gericht, wie zu erwarten ist, diesen Einschätzungen folgen, dann muss es bei einer Verurteilung von Stephan E. die Höchststrafe lebenslanger Haft verhängen. Davon abzurücken wäre nur bei einer eingeschränkten oder gar aufgehobenen Schuldfähigkeit möglich. Und auch bei der zweiten Frage, die der psychiatrische Gutachter zu beantworten hatte, fiel die Antwort zu Ungunsten des Angeklagten aus: Leygraf sieht bei Stephan E. einen „Hang zur Begehung von Straftaten“ und damit die notwendige Voraussetzung, über eine Haftstrafe hinaus Sicherungsverwahrung anzuordnen. Und das unabhängig davon, ob ihm auch die Messerattacke auf den jungen Iraker im Januar 2016 nachgewiesen werden kann oder nicht.

Ausländerfeindlichkeit als Teil der Persönlichkeit

Ganz gleich, welche der dreieinhalb Geständnisvarianten für den Mord an Walter Lübcke der Senat am Ende seinem Urteil zu Grunde legen wird, für den Gutachter steht fest: „Die Tatmotivation stand in direktem Zusammenhang mit der in der Persönlichkeit von Herrn E. verankerten Ausländerfeindlichkeit.“ Die rechtsextreme Gesinnung, die Stephan E. bereits in jungen Jahren zur Brandstiftung in einem von türkischen Menschen bewohnten Haus, zum versuchten Rohrbombenanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft und zum Messerangriff auf einen Imam motivierte, hat er nach Ansicht des Sachverständigen nie wirklich abgelegt – allen Beteuerungen, sich zwischenzeitlich aus der rechten Szene zurückgezogen zu haben, zum Trotz. Damit seien auch künftig einschlägige Straftaten zu erwarten.

Dass Stephan E. unterdessen bereits erste Gespräche für die Aufnahme in ein Neonazi-Aussteigerprogramm geführt hat, ändere daran nichts, so Leygraf: „Von konkreter prognostischer Bedeutung ist ja nicht die Bereitschaft zur Teilnahme, sondern das erfolgreiche Durchlaufen.“

Lebenslang mit anschließender Sicherungsverwahrung: Das ist der Richterspruch, dem der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke spätestens seit diesem Donnerstag entgegensieht. Bis das Urteil fällt, wird es jedoch noch etwas länger dauern als zuletzt geplant: Der Senat hat weitere Verhandlungstermine bis Weihnachten angesetzt.

Autor*in
Joachim F. Tornau

arbeitet als freier Journalist in Kassel und Hamburg. Einer seiner Schwerpunkte ist dabei die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten.

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