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Rostock-Lichtenhagen: Wie ein Augenzeuge die Ausschreitungen erlebte

Wolfgang Richter war im Rostocker Sonnenblumenhaus, als vom 22. August 1992 an Neonazis und Schaulustige Asylbewerber*innen und „Vertragsarbeiter“ aus Vietnam attackierten. Ein Interview über Erinnerungen und Lehren
von Robert Kiesel · 22. August 2017
25 Jahre Rostock-Lichtenhagen
25 Jahre Rostock-Lichtenhagen

Herr Richter, 25 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen: Woran denken Sie zuerst, wenn Sie sich an das Pogrom erinnern?

Nachhaltig widerlich sind die Erinnerungen an tausende Leute, die gejubelt, gegrölt, geklatscht und angefeuert haben. Diejenigen, die sich hinter den Steinewerfern versteckt und sie gleichzeitig angestachelt haben. Sie haben die Atmosphäre geschaffen für diese Pogromstimmung, die das Ausmaß der Randale überhaupt erst möglich gemacht haben.

Damals waren Sie Ausländerbeauftragter der Stadt Rostock: Hat Sie das Pogrom überrascht?

Dass es die Dimension annimmt, habe ich mir nie im Leben vorstellen können. Die Ausschreitungen selbst haben sich aber angekündigt. Parallel zur „Das Boot ist voll“-Debatte in Medien und Politik haben die für alle Seiten unzumutbaren Zustände vor Ort die Aggressivität und Gewaltbereitschaft wachsen lassen, sie waren mit den Händen greifbar. Das eklatante Versagen der Politik war der Auslöser für das Pogrom.

Inwiefern?

Mit der Entscheidung, die Zentrale Aufnahmestelle (ZAST) in einem Plattenbauviertel unterzubringen, fing alles an. Erst vereinzelt, später permanent mussten Menschen vor dem Gebäude darauf warten, ihre Asylanträge abzugeben. Die Situation vor Ort war ein Pulverfass, dessen Lunte lange brannte. Die Politik hat das ignoriert.

Scharf kritisiert wurde auch die Polizei. Zu Recht?

Zwei Antworten: Ich habe bis heute größten Respekt vor den eingesetzten Polizisten, die unter Einsatz ihres Lebens das Haus und die Menschen darin verteidigt haben. Die Polizeiführung wiederum hat vollständig versagt. Am Abend des 25. August, als das Haus in Brand gesetzt wurde, war überhaupt keine Polizei mehr vor Ort. Wir mussten über das Dach flüchten und hatten großes Glück, dass niemand verletzt oder getötet wurde. Die Menschen wurden allein gelassen.

Was kann Politik machen, um eine Wiederholung zu verhindern?

Ohne Zweifel können Menschen wieder so manipuliert werden, dass sie zur Gewalt greifen – der Nährboden ist nicht verschwunden. Deshalb muss Politik sehr aufmerksam sein, Formulierungen sensibel verwenden, Vorurteilen keinen Vorschub leisten. Wir müssen den Brandrednern ins Wort fallen, ehe wieder Brandsätze fliegen. Die Konsequenz, mit der beispielsweise Angela Merkel die Vorgänge in Charlottesville verurteilt hat, hätte ich mir auch in Bezug auf fremdenfeindliche Attacken in Deutschland gewünscht.

Das Interview erschien zum 25. Jahrestag der Ausschreitungen am 22. August 2017.

Autor*in
Robert Kiesel

war bis März 2018 Redakteur des vorwärts.

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