Lübcke-Prozess: Wie der Sohn seinen ermordeten Vater fand
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Jan-Hendrik Lübcke legte auf dem Zeugenstuhl den Kopf nach hinten, den Mund geöffnet. So, erzählte der Sohn des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten, habe er seinen Vater auf der Terrasse des gemeinsamen Hauses in Wolfhagen-Istha sitzen sehen, gegen halb eins am Morgen des 2. Juni 2019, eine ausgegangene Zigarette noch in der Hand. Ungefähr eine Stunde zuvor war Walter Lübcke erschossen worden, mutmaßlich von dem Kasseler Rechtsextremen Stephan E. Doch für den Sohn schien es, als wäre Papa, wie er ihn bei seiner Aussage vor dem Frankfurter Oberlandesgericht immer wieder nannte, einfach nur eingenickt.
„Ich habe erstmal gepfiffen“, erinnerte er sich, „nach dem Motto: Hey, Papa, wach auf – Zeit, schlafen zu gehen.“ Erst als er den Vater angefasst habe, sei ihm klar geworden: „Hier ist was passiert.“ An einen Mord habe er aber auch dann noch nicht gedacht. Eher an einen Herzinfarkt. „Er war ja nicht der Schlankeste“, erklärte Jan-Hendrik Lübcke. Mit dem 30-Jährigen, dem jüngeren von zwei Söhnen des getöteten CDU-Politikers, vernahm das Gericht am Dienstag den ersten Zeugen.
Verteidiger Hannig wird abberufen
Zunächst hatte der Staatsschutzsenat an diesem siebten Verhandlungstag jedoch jenen spektakulären Beschluss verkündet, der sich am Vortag bereits angekündigt hatte: Frank Hannig ist nicht länger Verteidiger von Stephan E. Das Verhältnis zwischen dem Dresdner Anwalt aus dem Pegida-Umfeld und seinem Mandanten sei zerrüttet, die Kommunikation „nachhaltig gestört“, befand der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel und gab damit einem Antrag von Stephan E. statt.
Zugleich verwahrte er sich gegen die Darstellung Hannigs, die Abberufung solle ihn daran hindern, nach einem möglichen rechten Netzwerk zu fragen: „Selbstverständlich wäre der Senat daran interessiert, ein rechtes Netzwerk aufzudecken, wenn es bestünde“, sagte Sagebiel. Aber Hannig schade seinem Mandanten, wenn er, wie am Montag geschehen, mit unabgestimmten Anträgen über ein solches Netzwerk mutmaße – und damit sogar das Bestehen einer terroristischen Vereinigung nahelege.
Als Nachfolger Hannigs benannte das Gericht den Kölner Jörg Hardies, der mit Stephan E.s zweitem Verteidiger Mustafa Kaplan in einer Bürogemeinschaft arbeitet.
Der Ermordete wird in den Schilderungen seines Sohnes lebendig
Von einem „bemerkenswerten Schauspiel“ der Verteidigung sprach Nebenklageanwalt Holger Matt, der die Familie Lübcke in dem Verfahren vertritt. Für die Angehörigen des Ermordeten aber sei nur wichtig, dass die Tat aufgeklärt werde. Jan-Hendrik Lübcke versuchte dazu nicht nur seinen Beitrag zu leisten, indem er sich, immer wieder spürbar um Fassung ringend, an das Auffinden seines toten Vaters erinnerte, an seine vergeblichen Wiederbelebungsversuche, an die Mitteilung der Kriminalpolizei in den frühen Morgenstunden, dass der Tod des 65-Jährigen nicht natürlich gewesen sei. Er gab auch dem Ermordeten mit seinen Worten ein Gesicht, ließ ihn durch warmherzige Charakterisierungen lebendig werden.
Als lebensfroh und weltoffen schilderte er Walter Lübcke, als guten Vater und als einen Mann, der in seiner Tätigkeit als Regierungspräsident seine Berufung gefunden habe. „Er hat gerne von einem Comic geredet, in dem er als Fürst von Nordhessen dargestellt wurde“, sagte der Sohn. „Das hat ihm gut gefallen.“ Aber nicht, weil er sich überlegen gefühlt habe: „Es war ihm wichtig, dass alle Menschen gleich behandelt werden.“ Deswegen habe er sich auch so dafür stark gemacht, Geflüchteten zu helfen.
Morddrohungen von Rechten aus dem ganzen Land
Auf einer Bürgerversammlung im Oktober 2015 in Lohfelden bei Kassel hatte der Regierungspräsident diese Werte gegen organisierte Pöbler mit deutlichen Worten verteidigt. Auch Stephan E. und sein mutmaßlicher Mordhelfer Markus H. waren dort; ein von ihnen anschließend ins Internet gestellter Videoausschnitt trug Lübcke Hass, Hetze und Morddrohungen von Rechten aus dem ganzen Land ein. Das habe seinen Vater, sonst sehr gelassen, dann doch beunruhigt, sagte Jan-Hendrik Lübcke. Auch weil er in der Folge die politische Unterstützung für seine Haltung vermisst habe. „Es fehlte ihm die Rückendeckung.“
Der Mord, sagte der Sohn, habe die Familie „innerlich zerrissen“, die Tat bleibe für sie unbegreiflich und unvorstellbar. „Wir werden damit niemals fertig werden.“
Am 5. August wird der Prozess fortgesetzt. Dann will sich Stephan E., der im Ermittlungsverfahren zwei sich widersprechende Geständnisse abgelegt hat, vor Gericht zu den Anklagevorwürfen äußern. Die Chance, sich bei Jan-Hendrik Lübcke zu entschuldigen, ergriff er am Dienstag nicht.
arbeitet als freier Journalist in Kassel und Hamburg. Einer seiner Schwerpunkte ist dabei die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten.