Lübcke-Prozess: Gericht zweifelt an zweitem Tatvorwurf gegen Stephan E.
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Der Satz fiel eher beiläufig, kurz nach der Mittagspause: „Im Moment“, sagte Senatsvorsitzender Thomas Sagebiel am Dienstag, „sieht der Senat diesen Anklagepunkt kritisch“. Gemeint war die zweite Tat, die Stephan E. neben der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zur Last gelegt wird: Im Januar 2016 soll er Ahmed I., einen heute 27 Jahre alten Geflüchteten aus dem Irak, auf offener Straße niedergestochen haben. Einfach so, im Vorbeifahren, vom Fahrrad aus. Die Anklage gegen den Kasseler Rechtsextremen, über die seit nun 34 Prozesstagen vor dem Frankfurter Oberlandesgericht verhandelt wird, stützt sich in diesem Punkt allerdings nur auf Indizien. Und die scheinen dem Gericht offenbar nicht zu reichen.
Für eine eindeutige Identifizierung war die Spur zu schwach
Zu den Gründen dieser – natürlich ausdrücklich nur als vorläufig deklarierten – Einschätzung äußerte sich Sagebiel nicht. Dass er sich überhaupt so weit aus dem Fenster lehnte, lag allein daran, dass er den Verteidigern von Stephan E. nahelegen wollte, ihre noch nicht erledigten Beweisanträge zu Hilfsbeweisanträgen umzuetikettieren. Also zu Anträgen, über die lediglich im Falle einer Verurteilung zu entscheiden wäre. Klare Botschaft: Eine solche Verurteilung ist derzeit so weit weg, dass sich die Verteidigung nicht mehr zu sehr in diesen Anklagepunkt verbeißen muss.
Am meisten belastet Stephan E. ein Klappmesser, das in seinem Hobbykeller gefunden wurde, mit DNA-Spuren an der Klinge. Einiges – das unterstrich der am Dienstag erneut geladene DNA-Gutachter noch einmal – spricht dafür, dass diese Spuren vom Opfer stammen. Für eine eindeutige Identifizierung aber war die Spur zu schwach. Ob es diese Restzweifel sind, die die Skepsis des Senats begründen, oder ob es eher die jüngst überraschend aufgetauchte Quittung war, nach der Stephan E. das fragliche Messer erst nach der Tat gekauft haben könnte: Das blieb an diesem Prozesstag offen.
Für das Strafmaß spielt der zweite Tatvorwurf kaum eine Rolle
Für das Strafmaß, das das Gericht am Ende gegen den 47-jährigen E. verhängen wird, spielt der zweite Tatvorwurf ohnehin nur eine untergeordnete Rolle. An einer Verurteilung zu lebenslanger Haft wegen des Mordes an Walter Lübcke dürfte kein Weg vorbeiführen. Sollte Stephan E. vom Mordversuch an Ahmed I. freigesprochen werden, kann er allenfalls darauf hoffen, dass das Gericht auf die Verhängung von Sicherungsverwahrung verzichtet. Und selbst das ist nicht sehr wahrscheinlich, will sich der Senat nicht über die Prognose von Psychiater Norbert Leygraf hinwegsetzen, der dem mehrfach vorbestraften Rechtsextremen ganz grundsätzlich Gefährlichkeit bescheinigte.
Dramatischer hingegen wäre ein Freispruch für das Opfer: Ahmed I. kämpft seit nunmehr fast fünf Jahren darum, dass der Angriff auf ihn als rechtsextreme Straftat anerkannt wird. Sein Kampf wäre dann weiter ein vergeblicher.
Deutliche Worte von Richter Sagebiel an Familie Lübcke
So schmallippig Richter Sagebiel blieb, als er die Haltung des Gerichts zum Fall Ahmed I. andeutete, so deutlich war er am Morgen geworden. Da hatte er sich im Namen des Senats scharf gegen Vorwürfe verwahrt, die Anwalt und Sprecher der Familie Lübcke via „Spiegel“ erhoben hatten: Von einer „auffallenden Freundlichkeit und Geduld“ des Gerichts gegenüber dem Mitangeklagten Markus H. war da die Rede gewesen, gar von einem mangelnden Aufklärungswillen.
Sagebiel nannte das „einen untauglichen und unsachlichen Versuch, das Verfahren über die Presse zu steuern“ und fuhr seinerseits schwere Geschütze auf. Der Grundsatz der Menschenwürde, mahnte er, gelte auch für die Angeklagten in diesem Verfahren – und damit bis zum Urteil die Unschuldsvermutung. „Wir sitzen nicht zuletzt hier in diesem Saal, weil der Getötete Dr. Walter Lübcke die Menschenwürde hochgehalten hat. Darüber sollte man mal nachdenken.“
Das Gericht will keine Notizen beschlagnahmen
Die Familie Lübcke hält Markus H., über die Anklage hinausgehend, für direkt tatbeteiligt. Das Gericht sieht dagegen nicht einmal den von der Bundesanwaltschaft erhobenen Vorwurf der Beihilfe zum Mord als begründet an und hat den 44-Jährigen deshalb bereits vor zwei Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen. Der konkrete Konflikt entzündete sich jedoch an einer Entscheidung, die das Gericht am vergangenen Verhandlungstag verkündet hatte. Darin lehnte es ab, Notizen zu beschlagnahmen, die Stephan E.s ehemaliger Verteidiger Frank Hannig sich über Gespräche mit seinem Mandanten gemacht hat.
Nebenklageanwalt Holger Matt hatte das beantragt, weil sich daraus weiterer Aufschluss über die von Stephan E. behauptete Mittäterschaft von Markus H. ergeben könnte. Bundesanwaltschaft und auch die Verteidigung von Stephan E. schlossen sich an. Das Gericht aber befand, dass das erstens überflüssig und zweitens rechtlich nicht möglich sei, weil der Hauptangeklagte seinen einstigen Anwalt nicht umfassend von der Schweigepflicht befreit habe. Ohne auf Sagebiels einleitende Gardinenpredigt einzugehen, erklärte Matt nun, warum er diesen Senatsbeschluss für falsch hält und wie die Akten auf einem „seriösen und selbstverständlich prozessual zulässigen Weg“ doch beschlagnahmt werden könnten.
Offene Ohren für den Anwalt der Nebenklage
Bei Björn Clemens, Verteidiger von Markus H., sorgten die Ausführungen erwartbar für Empörung. Von einer „Kampagne“ gegen seinen Mandanten sprach er, von „Jagdeifer“ und unangemessen geschürten Emotionen. Beim Senat indes schienen die Worte des Nebenklageanwalts durchaus auf offene Ohren zu treffen: „Wir wollen uns mit den vorgebrachten Argumenten noch einmal intensiv auseinandersetzen“, versprach Sagebiel – und bat die Verfahrensbeteiligten vorsorglich, sich auch im neuen Jahr noch Zeit für den Prozess freizuhalten. Denn würde man die Unterlagen wirklich beschlagnahmen und auswerten, dann gebe es vor Weihnachten sicher kein Urteil mehr.
arbeitet als freier Journalist in Kassel und Hamburg. Einer seiner Schwerpunkte ist dabei die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten.