Lübcke-Mord: Wie sich eine wichtige Zeugin selbst demontiert
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Die Vernehmung der Zeugin neigte sich nach mehr als sechs Stunden dem Ende zu, im unwirtlichen Saal 165 C des Frankfurter Oberlandesgerichts hatte sich schon längst Erschöpfung breit gemacht, da brach es aus Thomas Sagebiel heraus. „Wir haben Sie gerade bei einer dicken, fetten Lüge ertappt!“, rief der Vorsitzende des Staatsschutzsenats. Da stelle sich doch sehr die Frage, wie viele Falschheiten die Zeugin im Laufe des Tages noch aufgetischt habe. Übersetzt heißt das: ob mit ihrer Aussage jetzt überhaupt noch etwas anzufangen ist.
Der Zorn galt Lisa-Marie D., Ex-Freundin des Kasseler Neonazis Markus H., der im Prozess um den Mord an Walter Lübcke wegen Beihilfe angeklagt ist. Er soll mit dem mutmaßlichen Mörder Stephan E. das Schießen geübt und ihn in seinem tödlichen Hass auf den flüchtlingsfreundlichen Kasseler Regierungspräsidenten bestärkt haben. Und die 31-Jährige, die zwei Jahre mit ihm liiert war und mit ihm eine kleine Tochter hat, ist eine wichtige Belastungszeugin. Oder hätte es sein sollen. Einen ganzen Verhandlungstag, der 19. ist es unterdessen, hatte das Gericht am Donnerstag für sie reserviert.
Zur Aufklärung der Tat kann Lisa-Marie D. nichts beitragen
Als sie Markus H. zum ersten Mal gesehen habe, erinnerte sich die Frau, habe sie sich gefühlt wie ein verliebter Teenager: „Das Herz hat geklopft, die Knie waren weich.“ Doch jetzt ließ sie an dem Mann, der sie als „Alleinbestimmer seines Lebens“ einst so beindruckt habe, kaum noch ein gutes Haar. „Er hat, im Nachhinein gesehen, psychopathische Anwandlungen“, sagte Lisa-Marie D. „Er ist narzisstisch, versucht Menschen in seinem Umfeld zu manipulieren.“ Dass ihr Ex-Freund auch in der Freundschaft der beiden Angeklagten der Dominantere gewesen sei, wie Stephan E. vor Gericht immer wieder behauptet hat, wollte sie allerdings nicht bestätigen. Und sie relativierte auch ihren viel zitierten Satz aus dem Ermittlungsverfahren, von Stephan E. als dem „Macher“ und Markus H. als dem „Denker“: Das beziehe sich in erster Linie darauf, dass der eine eine Familie gegründet habe und der andere immer alles „zerdacht“ habe. Und nicht auf die mögliche Rollenverteilung beim Mord an Walter Lübcke.
Ohnehin kann Lisa-Marie D. zur Aufklärung der eigentlichen Tat und ihrer unmittelbaren Vorgeschichte nichts beitragen: Als der CDU-Politiker am 1. Juni 2019 auf der Terrasse seines Hauses in Wolfhagen-Istha erschossen wurde, waren sie und Markus H. schon seit zwei Jahren kein Paar mehr. Aber eine Einschätzung gab die Zeugin trotzdem ab: Wenn Stephan E. wirklich der Mörder sei, dann habe Markus H. bestimmt davon gewusst. Wieso sie das glaube? „Die haben halt harmoniert. Man hat’s gesehen. Die haben sich nicht in die Tasche gelogen, da war eine Ehrlichkeit untereinander.“
Markus H. – ein Rassist und Antisemit
Die beiden Freunde seien sich stets einig gewesen, wenn sie, wie eigentlich ständig, über Politik geredet hätten. Was vor allem bedeutet habe: über Ausländer, über den angeblichen Austausch der deutschen Bevölkerung durch Flüchtlinge, über die „Schuld“ von Angela Merkel. „Ich muss ganz ehrlich sagen, ich hab irgendwann nicht mehr zugehört“, sagte die Zeugin. Zu sehr seien ihr die ewig gleichen Tiraden auf die Nerven gegangen. Nach der Bürgerversammlung zu einer Geflüchtetenunterkunft in Lohfelden und Walter Lübckes klaren Worten gegen rechte Pöbler*innen sei ihr Lebensgefährte vor Wut „kaum zu halten“ gewesen. Er habe danach immer wieder davon angefangen – und dabei einmal auch verkündet, der Regierungspräsident sollte „erhängt“ werden. Derart aufgebracht, erklärte Lisa-Marie D., habe sie Stephan E. nie erlebt. Auch nicht, wenn es um Walter Lübcke ging.
Den Vater ihrer Tochter schilderte die Frau als Rassisten und Antisemiten, als stolzen Besitzer einer Gürtelschnalle mit Hakenkreuz und einer Originaldose des Giftgases Zyklon B, mit dem Jüdinnen und Juden in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet wurden. Als einen Mann, dem nichts wichtiger sei als seine Waffen – und der sogar eine begonnene psychiatrische Behandlung abgebrochen habe, aus Angst, sonst seine Waffen abgeben zu müssen. „Manisch-depressiv“ habe damals die Verdachtsdiagnose gelautet.
Ein Tischtennisball enttarnt die Lüge
Das Problem bei alledem: Eine unbefangene Zeugin ist Lisa-Marie D., die spürbar enttäuschte Ex-Freundin, nicht – zumal sie mit Markus H. auch noch um das Sorge- und Umgangsrecht für das gemeinsame Kind streitet. „Ich muss hier keinen in die Pfanne hauen, um positiv rauszugehen“, beteuerte sie zwar. Doch dann kam das, was schließlich zu dem entrüsteten Ausbruch von Richter Sagebiel führen sollte. Zunächst hatte die Verteidigung von Markus H. noch mäßig erfolgreich versucht, die Glaubwürdigkeit der Zeugin zu erschüttern, indem sie deren eigene, bis dahin nur halbherzig eingeräumte Verbindung zur rechten Szene herausarbeitete. Ein riesiges – mittlerweile allerdings übertätowiertes – Hakenkreuz-Tattoo auf dem Oberschenkel. Eine frühere Liebesbeziehung zu einem Neonazi-Kader aus Dortmund, einer Stadt mit einer besonders militanten rechtsextremen Szene.
Was Lisa-Marie D. wirklich der Lüge überführte, war dann jedoch: ein Tischtennisball. Markus H. sollte ihn, Beweis seiner Verantwortungslosigkeit, der Tochter in den Mund gesteckt haben. Triumphierend konnte Verteidigerin Nicole Schneiders Fotos präsentieren, die die junge Mutter zeigen – fröhlich lachend, das Baby auf dem Schoß, ein Tischtennisball im Mund der Kleinen.
arbeitet als freier Journalist in Kassel und Hamburg. Einer seiner Schwerpunkte ist dabei die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten.