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Halle-Prozess: „Das Misstrauen ist nach dem Anschlag gewachsen.“

Das Attentat auf die Synagoge in Halle war ein Schock. Seit Dienstag steht der Täter vor Gericht. Doch egal, wie der Prozess ausgeht: Es wird kaum etwas sein wie es vorher war, sagt Gemeindemitglied Igor Matviyets.
von Kai Doering · 22. Juli 2020
Igor Matviyets engagiert sich in Sachsen-Anhalt in der SPD.
Igor Matviyets engagiert sich in Sachsen-Anhalt in der SPD.

Am Dienstag hat der Prozess gegen den Attentäter von Halle begonnen. Sie waren in Magdeburg vor dem Gericht. Wie haben Sie den Auftakt erlebt?

Der Prozess selbst findet ja hinter verschlossenen Türen und ohne Live-Bilder statt. Ein breites Bündnis aus Antifaschistinnen und Antifaschisten aus dem ganzen Bundesland hatte deshalb in Sichtweite des Gerichtsgebäudes eine mehrstündige Kundgebung organisiert, um eine Öffentlichkeit herzustellen und auch der Nebenklage Raum zu bieten. Daran habe ich teilgenommen. Die Stimmung untereinander war sehr positiv, die Redebeiträge waren aber durchaus emotional aufgeladen. Für die meisten war es ja leider nicht das erste Mal, dass sie zu einem solchen Thema wie Antisemitismus und Rassismus sprechen mussten.

Worum ging es in den Reden konkret?

Zum einen wurde kritisiert, dass der Staat und seine Organe häufig untätig sind, wenn es um antisemitische und rassistische Vorfälle geht. Zum anderen kamen aber auch Angehörige von Menschen zu Wort, die zum Zeitpunkt des Anschlags im Oktober vergangenen Jahres in der Synagoge waren. Wie so oft kennen wir den Namen des oder der Täter auswendig, die Namen der Opfer aber nicht. Dieses Muster sollten wir durchbrechen. Der Name des Täters wurde deshalb bei der Kundgebung auch weitestgehend nicht genannt. Viel wichtiger ist die Frage, wie es zu der Tat kam und warum wieder in Sachsen-Anhalt.

Den Sicherheitsbehörden war der Täter zuvor nicht aufgefallen. Hätte der Anschlag aus Ihrer Sicht dennoch verhindert werden können?

Das ist immer schwer zu sagen, aber so wie der Attentäter vorgegangen ist, wäre es zumindest nicht sonderlich schwer gewesen, ihn aufzuhalten. Er wusste ja nicht einmal, wieviele Menschen sich in der Synagoge aufhalten und wie es im Inneren aussieht. Hinzu kommt, dass es vergleichbare Anschläge auf Glaubensorte von Minderheiten ja bereits gegeben hatte, etwa in Pittsburgh oder in Christchurch. Doch die Polizei hat es offenbar nicht für möglich gehalten, dass so etwas auch in Sachsen-Anhalt passieren kann. 

Der Anschlag hat vor einem Dreivierteljahr die ganze Bundesrepublik erschüttert. Wie hat er Halle verändert?

Leider hat sich eigentlich nichts getan. Direkt nach dem Anschlag gab es zwar sehr würdige, angemessene Veranstaltungen – zum großen Teil organisiert von ehrenamtlichen, antirassistischen Gruppen, teilweise aber auch von der Stadt und der Landesregierung. Danach ist man aber wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die Betreiber des Döner-Imbiss‘, in dem der Attentäter um sich geschossen hat nachdem er an der Synagogentür gescheitert war, haben bis heute keine Hilfe erhalten. Und auch wir Mitglieder der jüdischen Gemeinde mussten lange warten, ehe die Sicherheit der Synagoge und des Gemeindezentrums erhöht wurde. Inzwischen steht vor der Synagoge rund um die Uhr ein Polizeiauto. Auch ein Polizeicontainer wurde aufgestellt, der aber nicht besetzt ist. Aber auch das ist schon eine hundertprozentige Verbesserung der Sicherheit im Vergleich zur Zeit vor dem Anschlag. Denn bis dahin hatte sich die Gemeinde darum in eigener Verantwortung gekümmert. Im Vergleich zu anderen Bundesländern ist es aber insgesamt ein Armutszeugnis.

Der Angeklagte gilt vielen als isolierter Einzeltäter, der sich über das Internet radikalisiert hat. Wie sehen Sie das?

Den Tatablauf hat er allein organisiert und durchgeführt, aber seine menschenfeindliche Ideologie hat er in den Jahren zuvor aufgebaut. Den Antisemitismus hat er nicht erst im Internet entdeckt. Prägend war vor allem sein privates Umfeld. Seine Mutter zum Beispiel hat direkt nach dem Anschlag selbst antisemitische Vorurteile von sich gegeben. Sie scheint ihn also sehr geprägt zu haben. Der Attentäter hat ein geschlossenes antisemitisches Weltbild entwickelt, in dem Jüdinnen und Juden für alles Schlechte verantwortlich sind. Aus dieser Motivation heraus hat er seinen Anschlag auf die Synagoge geplant. Nachdem er an der Tür gescheitert war, hat er den Döner-Imbiss in der Nähe gesehen und geschlossen, dass er dort Menschen mit Migrationshintergrund töten kann. Deshalb hat er dort um sich geschossen.

Der Anschlag ist mittlerweile ein Dreivierteljahr her. Welche Spuren hat er in der jüdischen Gemeinde hinterlassen?

Die Gemeinde in Halle war bis zum vergangenen Oktober eine der unscheinbarsten in Deutschland. Sie bestand nie aus streng religiösen Jüdinnen und Juden, die auch öffentlich durch ihre Kleidung oder ihr Verhalten dem Judentum hätten zugeschrieben werden können. Um es klar zu sagen: Schon vor dem Anschlag ist niemand mit einer Kippa durch die Straßen gelaufen. Insofern konnte sich da auch nichts verändern. Veränderungen gibt es aber im Gemeindeleben. Öffentliche Veranstaltungen, bei denen Juden auf Nicht-Juden treffen können, wird es auf absehbare Zeit nicht geben – oder wenn, dann nur unter höchsten Sicherheitsauflagen. Das Misstrauen ist da schon gewachsen. Das ist sehr schade, denn ich sehe nach wie vor im Kontakt und im Austausch die beste Möglichkeit, Vorurteile abzubauen und Neugier zu wecken.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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