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Geständnis von Stephan E.: Erneute Kehrtwende im Lübcke-Prozess

Der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke hat vor Gericht am Mittwoch eine dritte Version seines Geständnisses präsentiert. Stephan E. räumt nun wieder ein, den Kasseler Regierungspräsidenten selbst erschossen zu haben. Gleichzeitig belastet er seinen Mitangeklagten Markus H. schwer.
von Joachim F. Tornau · 5. August 2020
War er die treibende Kraft hinter dem Mord an Walter Lübcke? Am Mittwoch wurde Markus H. von Stephan E. schwer belastet.
War er die treibende Kraft hinter dem Mord an Walter Lübcke? Am Mittwoch wurde Markus H. von Stephan E. schwer belastet.

Genau 15 Punkte umfassten die Ausführungen, die Verteidiger Mustafa Kaplan für seinen Mandanten vortrug, und in den meisten davon tat sich Stephan E. selbst am meisten leid. Ausführlich schilderte der 46-Jährige, wie er als Kind unter seinem gewalttätigen und alkoholkranken Vater gelitten habe, wie er brutal von ihm misshandelt worden sei, wie er seiner ebenfalls brutal misshandelten Mutter einmal das Blut aus dem Gesicht habe wischen müssen. Wie er trotzdem um die Liebe des Vaters gebuhlt habe und deshalb irgendwann dessen „Ausländerfeindlichkeit“ übernommen habe. Um wenigstens etwas mit dem Vater gemeinsam zu haben. Seine Kindheit, ließ Stephan E. vortragen, sei eine „Hölle aus Gewalt, Jähzorn, Angst und Einsamkeit“ gewesen, die ihn psychisch krank habe werden lassen.

Das dritte Geständnis von Stephan E.

Bis Punkt 10 dauerte es am Mittwoch im Frankfurter Oberlandesgericht, ehe der Tod des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zur Sprache kam. Es war ein eher kurzer Teil der knapp einstündigen vorbereiteten Einlassung, doch er hatte es in sich. Denn er bedeutete eine neuerliche Kehrtwende des Angeklagten. In seinem ersten, kurz nach der Festnahme abgelegten und später widerrufenen Geständnis hatte er sich noch zum alleinigen Mörder erklärt. Nach einem Wechsel seines Verteidigers präsentierte er dann zu Jahresbeginn eine ganz andere Version, nach der sein Freund und Neonazi-Kamerad Markus H. den tödlichen Schuss aus Versehen abgegeben haben sollte – obwohl sie den CDU-Politiker eigentlich nur hätten schlagen oder treten wollen. Jetzt ist Rechtsanwalt Frank Hannig, der ihm, so die Behauptung des Angeklagten, zur Erfindung dieses zweiten Geständnisses geraten haben soll, aus dem Verfahren ausgeschieden, und es gibt eine dritte Variante.

Es ist, wenn man so will, eine Mischung aus Nummer eins und zwei: Zusammen hätten er und Markus H. das Wohnhaus von Walter Lübcke ausgekundschaftet, zusammen hätten sie die Tat geplant und vorbereitet. Zusammen seien sie am späten Abend des 1. Juni 2019 nach Wolfhagen-Istha gefahren, seien zu dem 65-Jährigen auf die Terrasse getreten und hätten ihn beschimpft. Und dann habe er, Stephan E., dem Regierungspräsidenten in den Kopf geschossen. War das so geplant? „Der Einsatz der Waffe war auf jeden Fall eine Alternative, die wir in Betracht zogen“, las Kaplan vor. Was sich hinter diesen gestelzten Worten verbarg, offenbarte sich erst etwas später, als Stephan E. erste Nachfragen des Gerichts beantwortete. Erst druckste er noch herum, sprach von möglichen Warnschüssen in Boden oder Wand, dann nahm er sich ein Herz: „Es war vereinbart, die Waffe gegen Herrn Lübcke einzusetzen“, gab er zu. „Auf ihn zu schießen.“ Nicht vielleicht, sondern „auf jeden Fall“.

Markus H. – Gehilfe oder Mittäter?

Würde das so stimmen, wäre Markus H. nicht bloß Gehilfe gewesen, wie es ihm die Bundesanwaltschaft vorwirft, sondern Mittäter. Und auch darüber hinaus belastete Stephan E. seinen einstigen Kameraden erheblich. Zu den gemeinsamen Schießübungen habe der 44-Jährige eine Zielscheibe mit dem Konterfei von Angela Merkel mitgebracht – und angekündigt, das Gleiche auch mit einem Bild von Walter Lübcke zu tun. „Er hat mich radikalisiert, agitiert und aufgehetzt“, ließ Stephan E. erklären. „Ich folgte ihm.“ Markus H. sei eine „Mischung aus Freund und Vater“ für ihn gewesen. „Ich hatte großen Respekt vor ihm und war stolz, ihn überhaupt zu kennen. Ich würde sogar sagen, dass ich emotional von ihm abhängig gewesen bin.“

Übersetzt sollte das wohl heißen: Ohne den negativen Einfluss von Markus H. wäre es nie zum Mord an Walter Lübcke gekommen. Denn trotz seiner langen Karriere in der militanten Neonazi-Szene Nordhessens will Stephan E. eigentlich gar kein überzeugter Rechtsextremer gewesen sein: „Ich empfand mich nicht als einen Nazi.“ Mit Antisemitismus zum Beispiel habe er nichts am Hut gehabt. „Meine Themen waren vielmehr Überfremdung, das Aussterben der Deutschen und die Gewalt von Ausländern gegen Deutsche.“ Gleichwohl beteuerte er, an einem Aussteigerprogramm teilnehmen zu wollen.

Befangenheitsantrag gegen Thomas Sagebiel

Und auch seine Reue beteuerte er: „Was wir getan haben, war feige und falsch und grausam. Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.“ Doch selbst hier ging es nicht ohne Selbstmitleid und ohne den anklagenden Fingerzeig auf seinen Mitangeklagten: Er habe sich, so Stephan E., leider „von falschen Personen und falschen Gedanken“ leiten lassen. Der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, ein Fremdbestimmter.

Die Verteidigung von Markus H. reagierte auf diese neue Geständnisversion prompt mit einem Gegenangriff: Unter Verweis auf mögliche psychische Beeinträchtigungen von Stephan E. beantragte Rechtsanwältin Nicole Schneiders, „die Aussagetüchtigkeit und Glaubhaftigkeit des Angeklagten E. sachverständig zu begutachten“. Bereits zu Beginn dieses achten Verhandlungstags hatte ihr Co-Verteidiger Björn Clemens zudem den nächsten Befangenheitsantrag gegen den Senatsvorsitzenden Thomas Sagebiel gestellt – weil er nichts dagegen unternehmen will, dass der NDR in seinem Youtube-Format „Funk“ Ausschnitte der Videovernehmungen veröffentlicht hatte, die im Ermittlungsverfahren mit Stephan E. geführt wurden.

Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt. Dann will Stephan E. weitere Fragen beantworten – allerdings nicht von Alexander Hoffmann, dem Anwalt des irakischen Geflüchteten, den Stephan E. im Januar 2016 in Lohfelden bei Kassel auf offener Straße niedergestochen haben soll. Mit diesem Mordversuch, ließ er Mustafa Kaplan lapidar mitteilen, habe er nichts zu tun.

Autor*in
Joachim F. Tornau

arbeitet als freier Journalist in Kassel und Hamburg. Einer seiner Schwerpunkte ist dabei die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten.

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