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Gerhard Schröder: „Die klare Mehrheit der Deutschen ist für Toleranz“

Nach einem Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder am 4. Oktober 2000 zu einem „Aufstand der Anständigen“ auf. Im Interview sagt er, wie es dazu kam – und warum Deutschland ein Demokratiefördergesetz braucht.
von Kai Doering · 3. Oktober 2020
So kann es nicht weitergehen, das darf nicht wieder passieren: Am 4. Oktober 2000 rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder zum „Aufstand der Anständigen“ auf.
So kann es nicht weitergehen, das darf nicht wieder passieren: Am 4. Oktober 2000 rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder zum „Aufstand der Anständigen“ auf.

Nach einem Brandanschlag auf die Synagoge in Düsseldorf sagten Sie am 4. Oktober vor 20 Jahren, wegschauen sei nun nicht mehr erlaubt und forderten einen „Aufstand der Anständigen“. War das damals eine spontane Reaktion?

Ich habe mit dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, den Tatort besichtigt. Ich war damals sehr schockiert. Das war ein so bedrückendes Erlebnis, bei dem ich mir gesagt habe: So kann es nicht weitergehen, das darf nicht wieder passieren. Dieser Begriff „Aufstand der Anständigen“ kam spontan und sollte deutlich machen, dass die Gesellschaft das nicht toleriert und dass der Kampf gegen rechte Gewalt, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus verstärkt werden muss. Als im vergangenen Jahr dieser schreckliche Anschlag auf die Synagoge in Halle passiert ist, hat mich das an damals erinnert. Und das hat leider vor Augen geführt, dass wir mit diesem Problem heute immer noch zu tun haben. Auch deswegen engagiere ich mich zum Beispiel als Schirmherr der Aktion „Gesicht zeigen!“.

Nach Ihrem Aufruf kam es überall in Deutschland zu Demonstrationen und Lichterketten. Hatten Sie damit gerechnet, dass Sie auf derart viel Resonanz stößt?

In Berlin haben damals 200.000 Menschen gegen Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus protestiert. Die ganze Bundesregierung und Bundespräsident Rau waren da. Das war beeindruckend. Und man muss ja auch klar sagen, und das galt damals und gilt heute genauso: Die klare Mehrheit der Deutschen ist für Toleranz und für das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft. Der Hashtag #wirsindmehr ist keine hohle Phrase.

In der rot-grünen Bundesregierung haben Sie danach ein Programm aufgelegt, mit dem Initiativen gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus unterstützt wurden. Hat sich dadurch in der Gesellschaft etwas verändert?

Diese Unterstützung ist wichtig, gerade in Regionen, in denen Rechtsextreme vor allem in der Jugendszene sehr aktiv sind. Da müssen wir diejenigen stärken, die sich politisch dagegen wehren. Das sind die wirklich Mutigen in unserem Land. Für diese mutigen Menschen haben wir die Programme gemacht. Ich bin froh, dass die zuständige Ministerin Franziska Giffey dafür gesorgt hat, dass die Mittel für Demokratieförderung und Extremismusprävention in den nächsten drei Jahren fast verdoppelt werden. Wir brauchen jetzt eine Strategie, die die Träger in ihrer Arbeit finanziell nachhaltig absichert und ihnen die Last nimmt, die Notwendigkeit ihres Tuns mit einem hohen bürokratischen Aufwand ständig rechtfertigen zu müssen. Ein Demokratiefördergesetz wäre daher wünschenswert.

Der Anschlag ging damals glimpflich aus. Dagegen starben vor einem Jahr bei dem von Ihnen erwähnten Angriff auf die Synagoge in Halle zwei Menschen. Vorher wurde Walter Lübcke mutmaßlich aus rechtsextremen Motiven erschossen. In Hanau wurden im Februar neun Menschen mit ausländischen Wurzeln ermordet. Haben Sie eine Erklärung für diese Entwicklung?

Nein, ich weiß auch nicht, ob man das erklären kann. Es gab schon immer am rechten Rand diese große Bereitschaft zur Gewalt. Hier muss man mit allen Mitteln des Rechtsstaats gegen Gewalttäter vorgehen. Wer etwas so Unmenschliches tut, der gehört hart bestraft. Und wir müssen denen helfen, die Opfer dieser Taten wurden. Es war ein beeindruckendes Zeichen, dass Bundespräsident Steinmeier Hinterbliebene der Anschlagsopfer von Hanau im Schloss Bellevue empfangen hat. Er hat gesagt, dass die Opfer keine Fremden waren, sondern Teil dieser Gesellschaft. Das ist richtig, und das muss auch immer wieder betont werden.

Der SPD-Parteivorstand sieht den wachsenden Rechtsextremismus als „die größte Gefahr in unserem Land“ und hat jüngst nach den Ereignissen vor dem Reichstagsgebäude einen „Pakt für das Zusammenleben in Deutschland“ initiiert. Braucht es einen neuen „Aufstand der Anständigen“?

Es geht nicht um Begriffe, sondern um Haltung. Ich finde es gut, dass der Parteivorstand diesen Pakt initiiert hat. Es ist legitim, wenn Menschen demonstrieren, um ihren Unmut öffentlich zu machen. Aber wenn Rechtsextremisten diese Bühne nutzen, zum Beispiel bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, dann muss man sich klar abgrenzen. Das erwarte ich von den Organisatoren und den Teilnehmern dieser Demonstrationen. Es ist kein Kavaliersdelikt, wenn Rechte und Extremisten das Reichstagsgebäude stürmen wollen, sondern das ist ein Angriff auf unsere Demokratie. Die SPD ist eine stolze Partei, fast 160 Jahre alt. Wir haben der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft widerstanden. Der Reichstag war der Ort, an dem Otto Wels sich 1933 Hitler entgegengestellt hat. Diesen Ort überlassen wir nicht noch einmal den Nazis.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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