„Der Kampf gegen Antisemitismus beginnt im eigenen Kopf.“
imago images/VWPics
2012 waren Sie das erste Mal mit einer Jugendgruppe in den Lagern von Auschwitz. Wie haben Sie den Ort erlebt?
Die Gedenkstättenfahrt war etwas sehr Besonderes. Ich war unterwegs mit Jugendlichen, die mehrheitlich muslimisch waren. Im Vorfeld der Fahrt gab es viel Druck von Familie und Freunden, warum wir uns mit dem Leid der Juden auseinandersetzen und nicht mit dem im Gaza-Streifen. Dieser Druck hat in der Gruppe eine sehr starke Unsicherheit ausgelöst, die auch in Auschwitz durchgängig zu spüren gewesen ist. Zeitweise standen wir kurz davor, die Fahrt abzubrechen. Als wir dann vor dem Tor mit dem Schriftzug „Arbeit macht frei“ standen, hatte ich einen kurzen Widerstand in mir, diesen Ort zu betreten, weil ich es respektlos fand, dort herumzulaufen, wo mehr als eine Million Menschen ermordet wurden.
Wie hat die Gruppe Auschwitz empfunden?
Das Entsetzen über das Leben im Lager und den Alltag der Gefangenen war groß. Wir haben viel darüber gesprochen, wie zynisch das Lager organisiert war. In einer Baracke, in der Dutzende Toiletten dicht beieinander waren, stand „Sauberkeit und Ordnung“ als Leitspruch an der Wand. Von diesen Beispielen gibt es einige.
Wie kam es überhaupt zu der Fahrt?
Auslöser war, dass muslimische Jugendliche, die regelmäßig in das Duisburger Jugendzentrum kamen, in dem ich damals gearbeitet habe, von der Gedenkstättenfahrt ihrer Schule ausgeschlossen worden waren. Die Lehrkräfte unterstellten ihnen damals, als Muslime per se antisemitisch zu sein. Ich dachte mir dann: Wenn ihr nicht mitfahren dürft, dann lasst uns unsere eigene Fahrt machen.
In Ihrem Buch „Ehrensache“ erinnern Sie sich daran, dass einige der Jugendlichen bemerkt haben, in Auschwitz als Deutsche wahrgenommen zu werden, während sie in Deutschland meist als Ausländer galten.
Ja, das war eine irritierende Erfahrung. Wir hatten eine Reiseleiterin, die einen Regenschirm, mit einer kleinen Deutschlandfahne bestickt, mit sich trug. So konnten alle sehen, dass wir aus Deutschland kamen. Ausgerechnet in Auschwitz wurden die meisten von uns das erste Mal als Deutsche wahrgenommen und damit auch als Nachfahren der Täter. Das hat am Abend nach unserem Besuch im Lager eine riesige Diskussion in der Gruppe über die Frage ausgelöst, wer wir eigentlich sind, was unsere Identität ist. Einer hat diese Fremdwahrnehmung sarkastisch auf den Punkt gebracht: In Auschwitz sind wir Deutsche und in Deutschland die Ausländer. Das Paradoxe ist: Wenn wir zur damaligen Zeit in Deutschland gelebt hätten, dann hätten die Nazis auch uns vernichtet.
Welche Bedeutung haben Ausschwitz und der Holocaust für Menschen, deren Großeltern nicht zur Generation der Täter gehören?
Zunächst mal konfrontiert es sie mit ihrem eigenen Status als Minderheit. Hinzu kommt eine tiefe Angst, dass sich die Geschichte von damals wiederholen kann. Rassifizierte Menschen erleben in ihrem Alltag Rassismus und sehen dann, wenn es um den Holocaust geht, welche Folgen diese Ausgrenzung in Deutschland bereits gehabt hat. Auf der anderen Seite wird von ihnen erwartet, die eigene Perspektive der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Ihr Zugang wird nicht als berechtigt wahrgenommen, weil sie angeblich nichts mit dieser Geschichte zu tun haben. Dabei haben auch ihre Großeltern die Schuld- und Verantwortungsabwehr im Nachkriegsdeutschland miterlebt. Ihre Großeltern kamen in eine junge Demokratie, die noch aufgebaut werden musste.
Wie kann für sie ein Zugang zum Thema Holocaust aussehen?
Nicht unbedingt anders als bei anderen auch. Ich höre häufig die Meinung, dass Menschen, die zur Mehrheitsgesellschaft gehören und familiär mit dem Thema verbunden sind, einen besseren Zugang zum Holocaust hätten. Ich erlebe in meiner Arbeit aber häufig das Gegenteil. Wenn Menschen familiär verstrickt sind, ist die Abwehr oft größer. Menschen, die Rassismus-Erfahrungen gemacht haben, sind häufig sogar offener, weil sie Stigmatisierung, Ausgrenzung und sogar Gewalt aus eigener Erfahrung kennen. Ein Zugang, über den sich alle angesprochen fühlen, ist die Arbeit mit der eigenen Biografie. Ich frage deshalb immer zuerst: Was wisst ihr über die NS-Zeit? War sie in eurer Familie ein Thema? Wie reagieren die Leute in eurem Umfeld, wenn dieses Thema auftaucht? Machen eure Freunde Witze über den Holocaust? Wenn ich an die eigenen Erfahrungen der Jugendlichen anknüpfe, findet eigentlich jeder einen Zugang zum Thema.
Äußert sich muslimischer Antisemitismus anders als der in Deutschland gewachsene?
Antisemitismus in muslimischen Milieus wird in linken Kreisen oft als Reaktion auf eigene Diskriminierungserfahrungen verharmlost. Das ist keine Begegnung auf Augenhöhe, sondern paternalistisch. Wenn man sich die Anti-Israel-Proteste 2009 in Duisburg, 2014 in Essen und Berlin sowie 2021 in Gelsenkirchen anschaut, dann sieht man, dass der Judenhass immer mehr religiös motiviert und israelbezogen ist. Alleine die bloße Existenz Israels wird dort schon verteufelt. Islamistische Schlachtrufe mit einem antisemitischen Vernichtungswunsch gehören zum festen Repertoire. Keine dieser Demos sind an Frieden zwischen den Israelis und Palästinensern interessiert. Auf der anderen Seite wird der Antisemitismus in vielen Debatten nur auf Muslime projiziert, als wären sie gar nicht Teil dieser Gesellschaft. Diese Entlastung wird der Realität nicht gerecht, denn auch weite Teile der Mehrheitsgesellschaft fühlen sich nicht angesprochen, wenn es um Antisemitismus geht. Ich begreife Antisemitismus als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Der Kampf dagegen beginnt im eigenen Kopf.
Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit dagegen vor?
Indem es Räume der Selbstreflexion braucht, um über die Ideologie des Antisemitismus zu sprechen. Die Bilder in unseren Köpfen über Jüdinnen und Juden sind nicht natürlich, sie sind anerzogen. Wir wurden mit bestimmten Stereotypen und Vorurteilen sozialisiert. Ich zeige zum Beispiel Schulakten aus Duisburg, wo das Wort „Jude“ schon in den 1910er Jahren auf deutschen Schulhöfen als Schimpfwort benutzt wurde. Es kam mal ein muslimischer Jugendlicher auf mich zu und fragte mich, ob er denn überhaupt noch ein richtiger Moslem sei, wenn er Israel nicht mehr hassen würde. Er hat seine eigene Identität über ein Feindbild konstruiert. Auch Schuldgefühle der eigenen Community gegenüber spielen eine Rolle. Das will ich ändern. Die bereits erwähnte Biografiearbeit ist dafür ein guter Ansatz.
Und wie wichtig ist die Begegnung mit „dem anderen“?
Auch sehr wichtig, aber oft mit sehr hohen Erwartungen verbunden. Manche denken ja, es reicht, wenn sich zwei Gruppen – sagen wir, Muslime und Juden – einmal treffen, miteinander reden und danach haben sich alle Vorurteile aufgelöst. So ist es leider meistens nicht. Begegnungen können schließlich auch dazu führen, dass Vorurteile bestätigt werden. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus muss ganzheitlich sein. Sonst funktioniert sie nicht. Es ist und bleibt eine lebenslange Aufgabe.
In Ihrem Buch schreiben Sie „Das Gedenken an den Holocaust hat in Deutschland keinen gesamtgesellschaftlichen Rückhalt mehr“. Woran liegt das?
Erinnerungskultur wird seit Jahren angegriffen. Die Forderungen nach einem sogenannten Schlußstrich sind auch nicht neu, sondern Teil des Nachkriegsdeutschlands bis in die Gegenwart hinein. Eine sehr sichtbare Rolle hat sicher der Einzug der AfD in den Bundestag gespielt. Ich möchte das Problem aber nicht allein auf die AfD begrenzen. Entscheidender ist das gesamtgesellschaftliche Klima. Die Widerstände, wenn man über den Holocaust spricht, sind in den vergangenen Jahren deutlich größer geworden. Viele meinen, sie müssten sich nicht mehr mit dem Thema auseinandersetzen, weil sie es bereits ausreichend getan hätten. Den Satz „Nun reicht es aber langsam auch mal“ höre ich immer öfter. Wenn ich dann nachfrage, welchen persönlichen Bezug sie zum Nationalsozialismus haben, gibt es oft das große Schweigen. Über dieses Schweigen wird kaum gesprochen.
Wie kann man diese Ignoranz aufbrechen?
Das Thema Antisemitismus ist oft mit Scham verbunden. Schweigen ist aber keine Alternative, sondern das Problem. Worte finden für die eigene Familiengeschichte, die eigene Sozialisation, die eigene Verantwortung- damit kommt ein großer Stein ins Rollen. Ich verbinde damit auch eine Veränderung von Strukturen. Die Frage, wie wir jüdisches Leben in Deutschland sichtbarer machen können und was unsere Verantwortung als nichtjüdische Mehrheit ist, sollte uns viel mehr beschäftigen. Dazu gehört dann auch die Frage, wie wir eine Gesellschaft schaffen, in der Minderheiten angstfrei leben können. Das ist nicht die Aufgabe von Communities, die Rassismus und Antisemitismus erleben, sondern der Gesellschaft, Justiz und Politik.
node:vw-infobox
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.