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10 Jahre NSU: „Es kann von uns gar keinen Schlussstrich geben.“

Am 21. Oktober beginnt das deutschlandweite Theaterprojekt „Kein Schlussstrich“. In 15 Städten erinnern Kunstprojekte an die Morde des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Warum die Aufklärung nicht Enden darf, erklärt Werkleiter Jonas Zipf.
von Benedikt Dittrich · 19. Oktober 2021
In Jena wurde ein Platz umbenannt um an Enver Simsek, das erste Opfer des NSU, zu erinnern.
In Jena wurde ein Platz umbenannt um an Enver Simsek, das erste Opfer des NSU, zu erinnern.

Jonas Zipf, im November 2011 flog der NSU auf. Zehn Jahre später fordert das bundesweite Theaterprojekt zum NSU dem Namen nach: Es darf keinen Schlussstrich geben. Aber sollte er nicht doch irgendwann gezogen werden?

Nein, das ist genau der Punkt. Wir haben uns diesen Titel übrigens geliehen von einer zivilgesellschaftlichen Initiative. Wenn wir darauf schauen, wie die Aufarbeitung bisher gelaufen ist, dann sehen wir etwas, was Semiya Şimşek, die Tochter des ersten NSU-Opfers, eine dreifache Traumatisierung der Opfer-Angehörigen nennt: Zuerst gab es die Traumatisierung durch die Morde selbst, dann gab es die Traumatisierung, dass man Selbst verdächtigt wurde und dann gab es eine dritte Traumatisierung, indem Aufklärung versprochen, aber ausgeblieben ist. Es wurden eher Dinge vereitelt und verdunkelt.

Befinden wir uns noch in dieser dritten Phase?

Ja, seit Jahren eigentlich. Es werden Vorwürfe gegen den Münchner NSU-Prozess geäußert, dass die Fragen nach den Hintermännern, den Netzwerken, wie Behörden darin verstrickt waren, nicht weiterverfolgt wurden. Es geht dabei um strukturelle Dimensionen, das sieht man anhand neuer rechtsterroristischer Anschläge wie etwa in Hanau. Es passieren ähnliche Dinge wieder. Und deswegen kann es an dieser Stelle keinen Schlussstrich geben. Es kann ihn auch deswegen von uns nicht geben, weil wir als Kunst-Akteure zunächst Aufmerksamkeit schaffen. Die Aufarbeitung muss auf anderen Ebenen weitergehen.

Es geht nicht darum, einen Schlussstrich für den Schmerz der Angehörigen zu finden. Es geht darum, sich mit dem eigenen strukturellen Rassismus zu beschäftigen. Das gilt auch für uns als Kulturakteure: Unsere Institutionen sind nicht sehr divers. Wir sehen bestimmte Dinge in der Gesellschaft nicht, die wir eigentlich sehen müssten. Wir haben strukturelle Blindheiten und solange diese existieren, wird die Aufarbeitung weiter verschleppt.

Was wird in den kommenden Wochen unter der Überschrift „Kein Schlussstrich“ konkret passieren?

Wir sind ein „Gegennetzwerk“ von ungewollt Vereinten. So hat es der künstlerische Leiter des Theaterhauses in Jena mal bezeichnet. Er meinte: „Ihr habt euch das ja nicht ausgesucht, dass ihr jetzt hier zusammenarbeitet. Ihr seid zusammengekommen, weil dieses Terror-Trio und sein dahinterstehendes Netzwerk in diesen Städten aus bestimmten Gründen die Morde begangen hat.“

Wir haben uns in Jena überlegt, dass wir ein Projekt machen, sobald mindestens fünf Städte mitmachen. Es sollte in jeder Stadt ein Theaterprojekt und ein Vermittlungsprogramm geben. Und übergreifende Projekte, damit die Zuschauer*innen vor Ort in Köln, Rostock oder Nürnberg auch erleben, dass es ein Gesamtprojekt gibt. Am Ende sind es 14 Stadt- und Staatstheater, drei Kulturbetriebe und unzählige zivilgesellschaftliche Initiativen geworden, die sich zusammengeschlossen haben.

Es gibt in all diesen Theatern jeweils eine Eigenproduktion, einen breiten Diskurs, ein Vermittlungsprogramm und es gibt zwei gemeinsame Projekte, die in unterschiedlicher Form überall stattfinden: Zum einen die Ausstellung „Offener Prozess“, die den NSU-Komplex und Aspekte des strukturellen Rassismus mit künstlerischen Mitteln aufarbeitet. Und daneben gibt es das Musikprojekt „Manifest(o)“. „Manifest(o)“ besteht aus mehreren Modulen, die in den Städten jeweils für sich stehen, aber in Nürnberg und Jena zusammen erklingen werden. Es wird zum Beispiel in Rostock am Toitenwinkler Stern eine Performance von Jugendlichen geben, den „Chor der Vergebung“ in der Keupstraße in Köln und eine Klarinettistin wird über das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg laufen.

Was können Kunstprojekte für die Aufarbeitung bewirken, wenn Behörden die Aufklärung eher behindern, wie Sie kritisieren?

Kunst und Kultur kann breite Aufmerksamkeit herstellen. Wir haben ja in unserem Programm nicht nur hochkulturelle Anteile. Es gibt Konzerte, Filme, alles Mögliche, was auch für die entworfen wurde, die nicht regelmäßig ins Staatstheater strömen.

Aber es gibt noch einen anderen Punkt: Kunst kann eine unabhängige Plattform bieten, um kritische Positionen zu beziehen und möglicherweise sogar einen Schutzraum, den es im politischen oder zivilgesellschaftlichen Bereich nicht gibt.

Ein Beispiel dafür: Beim Kunstfest in Weimar hat der Regisseur Nuran David Çalis den NSU-Prozess reenacted. Im Anschluss an „438 Tage“ gab es damals Gespräche mit Angehörigen der Opfer. Mehmet O. hatte erst durch den Prozess erfahren, dass auch er ein Opfer des NSU ist. Erst durch den Prozess wurde öffentlich, dass ein Nagelbomben-Attentat in Nürnberg auch dem NSU zuzurechnen ist. Mehmet O. hat auch dann nicht die Öffentlichkeit gesucht. Aber: Beim Kunstfest hat er erstmals öffentlich gesprochen. Er hat dort das Vertrauen gefunden, sich zu zeigen und darüber zu sprechen. Dort war es möglich. Auch das war übrigens ein Projekt im Rahmen von „Kein Schlussstrich“.

In den beteiligten Städten gibt es NSU-Tatorte. Sollten wir uns neben der Erinnerung an die Anschläge auch damit auseinandersetzen, wie wir künftig mit diesen Tatorten umgehen?

Es kommt darauf an, dass man solche Überlegungen, solche Initiativen mit den Opfer-Angehörigen zusammen entwickelt. Auch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren. Kassel ist ein gutes Beispiel dafür, wie im öffentlichen Raum eine Gedenkkultur initiiert werden kann. Das ist noch nicht überall gelungen. Einige Städte, auch Jena gehörte bis vor kurzem noch dazu, haben noch kein NSU-Memorial.

Aber wenn man das mal vergleicht: Als 2011 der NSU aufflog, war von „Döner-Morden“ die Rede. Nach dem Attentat in Hanau gab es die Überschrift „Shisha-Morde“, sie hat sich aber nicht etabliert und wurde zurückgenommen. Dass das passiert ist, ist dem Druck der Straße zu verdanken. Wenn wir heute nach den Opfern in Hanau suchen, sehen wir freundlichere Bilder der Menschen und nicht Rasterfahndungs-Fotos wie bei den NSU-Opfern. Auch dafür haben aktivistische Gruppen gesorgt. Ohne diese Auseinandersetzung kann kein neues Vertrauen entstehen.

Kann man der Erinnerung, der bisherigen Aufarbeitung des NSU-Terrors also inzwischen auch etwas Positives abgewinnen?

Wir haben es mit einem Vertrauensverlust in den Staat und seine Organe zu tun – vor allem aus Sicht der migrantischen Communities. Das hat sich nicht unbedingt verbessert.

Andererseits kann man aber sagen, dass das Projekt selbst ein Zeichen dafür ist, dass sich auch staatliche Akteure auf den Weg gemacht haben. Die Stadt Jena hat das Thema bisher weiträumig umfahren, jetzt gibt es aber dieses Projekt. Wir machen Veranstaltungen in der Stadt, arbeiten mit der Zivilgesellschaft, mit der Wissenschaft dieses schwierige Kapitel auf. Auch im politischen Raum wird mittlerweile breit akzeptiert, dass die rechtsextremistische die größte Gefahr in diesem Land ist. Selbst im Bundesinnenministerium unter Horst Seehofer gab es immerhin eine Aufstockung von Mitteln für Programme wie „Demokratie Leben!“.

Wir sind also auf dem Weg.

Alles zu „Kein Schlussstrich“ auf der Seite des Projekts.

 

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