Außen- und Sicherheitspolitik

Zeitenwende: Wie sich die SPD auf Willy Brandt besinnt

Kai Doering11. März 2023
SPD-Chef Lars Klingbeil: „Wir müssen eine zweite Dimension der Politik Willy Brandts aufmachen.“
SPD-Chef Lars Klingbeil in Dortmund: „Wir müssen eine zweite Dimension der Politik Willy Brandts aufmachen.“
In dieser Woche ist Lars Klingbeil in die Ukraine und nach Warschau gereist. Bei einer Konferenz der SPD-Abgeordneten aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen berichtete er, welche Schlüsse die Partei für die Zeitenwende ziehen sollte.

Es war eine Überraschung. Als Lars Klingbeil und Rolf Mützenich am vergangenen Montagmorgen in Kiew aus dem Zug stiegen, waren vorher nur die wenigsten eingeweiht gewesen. Einen Tag verbrachten der SPD-Chef sowie der -Fraktionsvorsitzende in der ukrainischen Hauptstadt und sprachen unter anderem mit Präsident Selenskij.

„Diese Reise war für Rolf und mich ein wichtiges Zeichen, dass die Unterstützung der Ukraine uneingeschränkt weitergeht“, berichtet Klingbeil am Samstag bei einer Konferenz der SPD-Bundestagsabgeordneten aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen in Dortmund. Von allen Gesprächspartner*innen sei ihnen eine „tiefe Dankbarkeit gegenüber Deutschland“ entgegengebracht worden.

„Müssen uns für Brandt nicht entschuldigen“

Die Reise nach Kiew, an die Klingbeil noch ein Treffen in Warschau mit Vertreter*innen von zwölf Schwesterparteien in Nord-, Mittel- und Osteuropa anschloss, war von Beobachter*innen auch als Bruch mit der Ostpolitik Willy Brandts verstanden worden. Lars Klingbeil stellt dagegen in Dortmund klar: „Wir müssen uns für Willy Brandt niemals entschuldigen, im Gegenteil.“ Erst durch die Politik des Kanzlers sei eine Aussöhnung mit Russland möglich geworden, sei der Weg zur Wiedervereinigung geebnet worden.

Die Fehler der SPD im Umgang mit Russland sieht der Parteivorsitzende eher in der jüngeren Vergangenheit. „Mein Anspruch ist es, aufzuarbeiten, wo wir falsch abgebogen sind“, sagt er in Dortmund. Zudem gelte es, verloren gegangenes Vertrauen wieder aufzubauen. Bei der künftigen Außenpolitik der SPD könnte sogar eine Rückbesinnung auf Brandt helfen. „Wir müssen eine zweite Dimension der Politik Willy Brandts aufmachen“, sagt Lars Klingbeil und meint damit dessen Engagement in der „Nord-Süd-Kommission“, die eigentlich „Unabhängige Kommission für Internationale Entwicklungsfragen“ hieß und den Blick auf Probleme in der sogenannte Dritten Welt lenkte.

Zeitenwende nicht nur militärisch verstehen

Dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz verstärkt den Ländern des Globalen Südens zuwendet, etwa beim G7-Gipfel im vergangenen Jahr oder beim Besuchen in Brasilien Anfang dieses Jahres, wertet Lars Klingbeil als wichtiges Zeichen. „Das hat nichts mit Gutmenschentum zu tun“, betont Klingbeil. Stattdessen brauche Deutschland diese Länder als Partner*innen, denen sich sonst China und Russland zuwendeten.

„Internationale Solidarität bedeutet hinzusehen, wie es unseren Partnern im Globalen Süden geht“, betont in Dortmund auch Svenja Schulze. Auch in den ärmeren Ländern seien die Preise für Energie und Lebensmittel seit Beginn des Kriegs in der Ukraine drastisch gestiegen, was hier aber deutlich stärker ins Gewicht falle. „International wird sehr auf Deutschland geblickt“, unterstreicht die Entwicklungsministerin.

„Wir brauchen eine Nord-Süd-Politik, um die internationale Architektur zu sichern“, hatte bereits am Freitagabend Rolf Mützenich betont. „Der Begriff der Zeitenwende ist zu wertvoll, als dass man ihn allein mit dem Militärischen verbinden sollte. Die Zeitenwende ist mehr“, so der Fraktionsvorsitzende. Auch er nahm Bezug auf Willy Brandt und dessen Ostpolitik. „Ich folge nicht dem modischen Reflex, sich für sozialdemokratische Außen- und Sicherheitspolitik zu entschuldigen“, so Mützenich. „Für die Entspannungspolitik müssen wir uns nicht entschuldigen.“

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Kommentare

Klingbeils halbherziger Rückzug

Genosse Lars hält mit der "Zeitenwende" eine inhaltsleere Totgeburt hoch, die der Rüstungsindustrie dient. Ein außenpolitisches Konzept ist nicht sichtbar. Die Politik der EU und Deutschlands im Gefolge der USA war schon seit der Jahrtausendwende zunehmend gegen Russland gerichtet. Auch unter der Spd hat sich Deutschland nicht getraut, dem anti-Europäischen Kurs der USA wirksam zu widerstehen. Nordstream war immer nur das Stiefkind, zu dem man Abstand gewahrt hat. Sonst würde sich die SPD-Führung schützend vor Schröder und Schwesig stellen.

Brandtsche Politik erfordert den Mut, sich auch gegenüber den USA ein Standing zu erarbeiten, um überhaupt ein guter Nachbar zu sein, auch gegenüber Russland. Stattdessen sind wir inzwischen vollkommen fixiert auf einen Krieg, den wir nicht gewinnen können und von dem v.a. die USA profitieren. Bevor diese Fixierung nicht endet, bleibt unser Spielraum auf Worthülsen wie "Zeitenwende" begrenzt.

Eine Rückkehr zu Brandt würde Ehrlichkeit voraussetzen. Z. B. indem in Sachen Nordstream die Erkenntnisse der Bundesregierung offen auf den Tisch gelegt werden, wie unangenehm sie auch sein mögen. Trauen sich Klingbeil und Schloz WIRKLICH Brandt?

Klingbeils halbherziger Rückzug

An diesen Beitrag irritiert, dass er mit keinem Wort auf die Veränderungen in der russischen Gesellschaft und damit auch in der russischen Politik nach 1991 eingeht. Die innere Entwicklung in den beiden Parteien dieses Kriegs, also beim Aggressor Russland und in der angegriffenen Ukraine werden si zu nicht verstandenen Blackboxes. Ohne eine Analyse des russischen Rentierskapitalismus und des dazu komplementären russischen Machtstaates werden die Ursachen dieses Kriegs nicht verstanden werden und es bleibt bei einem naiven Idealismus, der Sehnsucht nach den alten Zeiten sozialdemokratischer Sicherheitspolitik hat.

Sehen Sie nur 2

Sehen Sie nur 2 Konfliktparteien besser gesagt Interessenparteien, Russland und die Ukraine? Das ist meiner Ansicht nach zu kurz gedacht. Vergessen werden sollte nicht der Maidan und was dazu geführt hat.

Fair enough.

Allerdings müssen wir uns dann auch mit den gebrochenen Zusagen des Westens befassen, die Nato nicht nach Osten auszudehnen. Bzw. der Unfähigkeit Deutschlands und Europas, diesem Expansionswunsch der USA Einhalt zu gebieten. Wir müssten berücksichtigen, dass es bisher vor allem der Westen war, der die Rüstungskontrollverträge aus dem Kalten Krieg gekündigt hat.

Sowie müssen wir unser eigenes Problem einer sich zuspitzenden Vermögenskonzentration sehen, wenn wir die Zustände in Russland anprangern wollen. Diese ist verbunden mit einer Konzentration von Medienmacht in wenigen Händen, was die Freiheit unserer Debatten spürbar einengt. Meine Frage wäre auch, was unsere "Philantropen" Marke Bill Gates (der zu Zeiten als Microsoft-Chef schmutzige Monopolmethoden verwendet hat, zu seinem exorbitanten Vermögen zu kommen) denn bei ehrlicher Betrachtung heute wirklich noch von den russischen "Oligarchen" unterscheidet?

Russland ändert sich, Deutschland und Europa aber auch. Und beide nicht nur zu ihrem Vorteil, betrachtet man es als Sozialdemokrat. Von daher bedarf es einer stetigen Neuauslotung der Sicherheitsinteressen der Beteiligten, das wäre mein Verstädnis von Brandt heute.

"Müssen uns für Brandt nicht entschuldigen"

Lars Klingbeil: "Mein Anspruch ist es, aufzuarbeiten, wo wir falsch abgebogen sind." Wenn das keine inhaltslose Floskel ist, müsste Genosse Klingbeil mit Bestimmtheit und Genauigkeit sagen können, W O und W A N N die SPD in dieser Thematik "falsch abgebogen" ist. Ich unterstelle, dass er sich darüber intensiv Gedanken gemacht hat. Vielleicht sollte Lars Klingbeil in Bezug auf diese Thematik einmal z.B. mit Peter Brandt (Historiker), Michael Müller (Vorsitzender der NaturFreunde Deutschlands), Klaus von Dohnanyi, Antje Vollmer, Julian Nida-Rümelin, Dr. Wolfgang Biermann (Mitarbeiter von Egon Bahr), Alexander Rahr (Senior Fellow am WeltTrends Institut für Internationale Politik), Dr.med Angelika Claußen (Co-Vorsitzende des IPPNW Deutschland (Internationale Ärzt:innen zur Verhütung des Atomkriegs)) den Diskurs aufnehmen, um ein vollständiges Bild zu erhalten. Auf dessen Grundlage dann die geeigneten Schlüsse zu ziehen sind.
Als 1953 Geborener, der in einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie aufgewachsen ist, der seinerzeit zur Generation ' Willy wählen ' und 'Mehr Demokratie wagen' gehört hat - komme ich nicht auf den Gedanken mich für Willy Brandt zu schämen.

Zum Beispiel: Julian Nida-Rümelin

Zweiter Versuch

Für Entspannungspolitik muss niemand sich entschuldigen!

Da Staaten nun eigene Interessen haben, wurden eigene Interessen Deutschlands eben durch Bundesregierungen vertreten. Da war und ist nichts falsch daran.

Hört man sich hingegen Aussagen bestimmter ausländischer Politiker zum Anschlag auf Nord Stream 1 und 2 an, so kann man sagen, dass man sich diese Regierungen wohl besser vom Leib hält.

Deutschland benötigte deshalb eine politische und wirtschaftlich relative Unabhängigkeit von anderen Staaten. Feindbilder, wie sie gegenwärtig wieder befördert werden, schaden uns dabei.

Durch politisches Unvermögen der Regierungen seit 2005 stecken Deutschland und dessen Bürger gegenwärtig sehr tief im Schlamassel, und zwar, weil Deutschlands Interessen eben nicht gut genug oder gar nicht vertreten wurden und werden.

Lesen bildet

Ich möchte hiermit dem Herren Klingbeil das Buch des Genossen Dohnany "Nationale Interessen" empfehlen.
Die Abhängigkeit von russischemGas durch die Abhängigkeit von US-Frackingdreck zu ersetzen scheint mir keine weise Entscheidung, aber diese Entscheidung hat Herrn Klingbeil und Co. ja das ominöse Sprengkommando abgenommen.

Wobei noch immer nicht geklärt ist

ob und was unsere Bundesregierung von der Sprengung wusste. Der Bundesregierung scheint nicht klar zu sein, wie sehr diese Unklarheit ihr Standing unterminiert.

„Mein Anspruch ist es, aufzuarbeiten,_1

wo wir falsch abgebogen sind“ – ein Horoskop würdiger Satz von „brutaler Plakativität und radikale Einfachheit“ (14.10.22); jedenfalls führte uns unsere Unkenntnis des Weges an die „Zeitenwende“, die „heute die (neue) Realität ist“ und ein Fanal, das ultimativ „eine grundlegende Neupositionierung sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik“ (19.10.22) erheischt. Die wird markiert durch ein Aufstocken des Militär-Budgets um mindestens 50% (gemessen an 2021), flankiert von einem 100 Mrd. € Bundeswehr-Sondervermögen, weil „zur Sicherung von Frieden in Europa eine glaubhafte Abschreckung gegenüber Russland gehört (9.3.23), oder, etwas deutlicher: „Friedenspolitik bedeutet, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen“ (21.6.22). Nachbarschafts-politisch besteht die neue Realität darin, dass, „solange sich in Russland nichts fundamental ändert, es kein seriöser Partner sein kann, nicht einmal für „ein gemeinsames Vorgehen bei Klimafragen oder bei Abrüstung (19.10.22).

Dass wir dazu auch „Strukturen verändern müssen, auch Budgets neu verhandeln“, versteht sich von selbst – und was damit gemeint ist (21.6.22).

„Mein Anspruch ist es, aufzuarbeiten.“_2

Unsere Antwort auf falsches Abbiegen, die Militarisierung aller unserer Politikfelder, ist klar, die Gründe aber nicht. Der Hauptfehler auf unserem Weg war, dass Deutschland „die (sicherheitspolitischen) Sorgen der mittel- und osteuropäischen Staaten zu lange zu wenig berücksichtigt hat“. Was soll das bedeuten?
Am 19.10.22 rügte Klingbeil zusätzlich, dass es zwischen „Deutschland und Russland ... Freundschaften“ gegeben hatte, die „allerdings nie den Blick auf die Realität versperren sollten“, aber wohl gemacht haben. Außerdem kritisierte er: „Wandel durch Handel ohne politische Agenda funktioniert nicht“ und räumte damit gleichzeitig „das bestimmende Paradigma (vom) Wandel durch Annäherung“ vom Tisch, so zeigend, „wie sich die SPD auf Willy Brandt besinnt“. Zudem hat sich „Deutschland mit seiner Energiepolitik abhängig von Russland gemacht: Eine solch einseitige Abhängigkeit darf nie wieder passieren“, was ja wohl impliziert, dass unsere Energie-Sanktionen gegen Russland Unsinn sind, weil sie nur uns schaden können.

Erklären „diese Fehler im Umgang mit Russland“ (19.10.22) auch nur andeutungsweise die Entwicklung zur „Zeitenwende“?!

„Mein Anspruch ist es, aufzuarbeiten.“_3

„Das russische Regime um Putin war immer repressiver und aggressiver, ja revisionistisch geworden“ (19.10.23); „imperiale Besessenheit“ nennt das Bundespräsident Steinmeier, einer, der wohl die zuvor gerügten Freundschaften mit Russland gepflegt hatte. Damit lenkt Klingbeil den Blick auf die geostrategische Dimension des Krieges, die allerdings ohne die leicht beschaffbare Nato-Strategie nicht zu beschreiben ist. Dass Klingbeil die Nato-Strategie – etwa aus 2022 - nicht kennt, ist auszuschließen. Dass er sie nicht erwähnt, macht seine Analyse „Mein Anspruch ist es, aufzuarbeiten“ zu einem wertlosen Rechtfertigungsversuch. Wenn es nur darum ginge, müsste man kein Wort darüber verlieren, aber die Kriegsursachen enthalten auch den Weg, ihn zu beenden. Darum ist es von elementarer Bedeutung, die Rolle der Nato nüchtern zu analysieren – aber auch mit Blick auf den Indo-Pazifik und die „große Schlacht des 21. Jahrhunderts“ (Biden), in der die Nato - und damit wir - eine gewichtige Rolle spielen will. (Ebenfalls nachzulesen im Strategiepapier des Nato-Gipfels 2022 in Madrid.) Das will die SPD?

Kann Klingbeil vorgeben, "welche Schlüsse die Partei für die Zeitenwende“ zieht?