Walter-Borjans im Norden: Zwischen Spitzenforschung und Arbeitskampf
„Wir haben da mal ein Gehirn für Sie vorbereitet“, sagt Matteo Mario Bonsanto und grinst. Bonsanto ist Oberarzt an der Klinik für Neurochirurgie der Universität Lübeck. Gerade hat er Norbert Walter-Borjans erklärt, wie mithilfe eines Ultraschall-Aspirators Tumorgewebe von gesunden Gehirnzellen abgenommen wird. Nun soll der SPD-Vorsitzende selbst Hand anlegen. Der Patient besteht natürlich nur aus Plastik, das Gehirn aus einer Wackelpudding artigen Masse.
Walter-Borjans nimmt den Ultraschall-Aspirator, ein etwa 30 Zentimeter langes Metallgerät, das an einen Lötkolben erinnert, in die rechte Hand, blickt durch ein Mikroskop, das auf das künstliche Gehirn gerichtet ist, und legt los. Im Gegenlicht steigt ein leichter Nebel auf – entferntes Gewebe und Wasser, die abgesaugt werden. Auf einem Monitor ist eine Ampel zu sehen. Leuchtet sie grün, wird Tumor-Gewebe entfernt. Leuchtet sie rot, sind nur noch gesunde Zellen zu erkennen.
Der Leuchtturm für künstliche Intelligenz im Norden
„Der Ultraschall-Aspirator wird bereits seit den 80er Jahren bei Tumor-Operationen eingesetzt“, erklärt Oberarzt Bonsanto. Das Gerät, das Walter-Borjans an diesem Donnerstagvormittag in der Hand hält, ist allerdings ein besonderes: Es arbeitet mit künstlicher Intelligenz (KI). Der Aspirator erkennt selbstständig, ob er es mit Tumor-Gewebe zu tun hat oder mit gesundem. „Damit müssen wir nur das entfernen, was wirklich notwendig ist“, erklärt Bonsanto.
Der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Medizin ist ein Schwerpunkt im Klinikum der Universität Lübeck. „Wir wollen das KI-Zentrum des Nordens werden“, sagt die Präsidentin Gabriele Gillessen-Kaesbach als sie Norbert Walter-Borjans begrüßt. Seit Anfang des Jahres ist die Uni eine Außenstelle des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI). „Wir sind ein Leuchtturm mit nationaler und internationaler Strahlkraft“, freut sich die Präsidentin.
Mit 300 Stimmen vorn in der Stichwahl
„Das ist sehr spannend, was Sie hier machen“, zeigt sich Norbert Walter-Borjans beeindruckt, der, wie er bei dem Besuch verrät, 1971 zunächst ein Semester Informatik studiert hat, ehe er dann zur Ökonomie wechselte. Die Lübecker Uni-Klinik ist am Donnerstag die erste Station einer eintägigen Reise des SPD-Vorsitzenden durch Schleswig-Holstein.
Nächster Halt ist Neumünster. Als der Bus vor dem Gelände der ehemaligen Hindenburg-Kaserne vorfährt, wird Walter-Borjans bereits von der SPD-Vorsitzenden Kirsten Eickhoff-Weber und dem designierten Oberbürgermeister Tobias Bergmann erwartet. Der 50-Jährige ist so etwas wie der Mann der Stunde in Neumünster: Bei der Stichwahl Ende Mai lag er gerade mal gut 300 Stimmen vor seinem Gegenkandidaten. Sein Amt wird er offiziell im September antreten.
„Die SPD kann auch Blaulicht.“
Dass Bergmann das kaum erwarten kann, wird beim Rundgang über das gut zehn Hektar große ehemalige Kasernen-Gelände deutlich. Alle paar Meter zeigt er auf Häuser oder Flächen, aus denen Neues entstehen soll. So möchte Bergmann eine Hochschule für die duale Ausbildung inklusive Wohnungen für die Studierenden errichten. Außerdem sollen die Landesfeuerwehrschule und der Zoll auf dem Gelände einziehen. Das Technische Hilfswerk (THW) ist bereits da. Zwei Tage zuvor wurden hier rund 700 Rettungskräfte zum Hochwasser-Einsatz in Rheinland-Pfalz verabschiedet.
„Die SPD kann auch Blaulicht“, sagt Kirsten Eickhoff-Weber, die Kreisvorsitzende. Die Sozialdemokrat*innen setzten sich deshalb für ein „Blaulicht-Zentrum“ auf dem ehemaligen Kasernengelände ein. „Norbert Walter-Borjans ist jemand, der gern nach vorne denkt“, sagt Eickhoff-Weber. Deshalb habe die SPD ihn bewusst hierher eingeladen.
Die Energiewende wird ausgebremst
Nach vorne denken ist auch das Ziel von Torsten Levsen. Er ist Vorstandsvorsitzender von Denker & Wulf, einem Unternehmen, das seit fast 30 Jahren Windkraftanlagen plant, errichtet und betreibt. Gemeinsam mit Norbert Walter-Borjans und dem SPD-Bundestagsabgeordneten Sönke Rix steht Levsen mitten in einem Feld zwischen Rendsburg und Eckernförde. Vor ihnen ein Windrad, 120 Meter hoch, 112 Meter Rotor-Durchmesser. Anlagen wie diese baut Levsens Firma in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg.
„Wir würden gerne mehr Geld verdienen, wenn wir mehr Strom produzieren“, sagt Levsen als er dem SPD-Chef die Anlage erklärt. Die derzeitige Rechtslage mit Erneuerbare-Energien-Gesetz und Einspeisevergütung lasse das aber nicht zu, aus Levsens Sicht eine unnötige Bremse der Energiewende. Noch mehr setzte seiner Firma aber ein Windkraft-Moratorium der Jamaika-Koalition zu: Seit 2019 durften neue Windanlagen in Schleswig-Holstein nur mit Ausnahmegenehmigung gebaut werden. Die Folge: ein herber Verlust von Fachkräften, „die man nicht einfach zurückbekommt“.
Erneuerbare Energien schneller ausbauen
Umso mehr freut sich Torsten Levsen über die angepasste Stromprognose für die kommenden Jahre. „Wir haben einen Wachstumspfad beim Stromverbrauch vor uns“, sagt Levsen. Und der müsse natürlich aus regenerativen Energien gedeckt werden. Levsen spricht von einer „Verdreifachung der Ausbau-Geschwindigkeit“, die dafür nötig sei. Dafür müssten allerdings Genehmigungsverfahren deutlich beschleunigt werden.
Bei Norbert Walter-Borjans trifft Levsen damit auf offene Ohren. Schließlich hat sich die SPD nicht nur ein Auslaufen der EEG-Umlage auf die Fahnen geschrieben, sondern auch einen deutlich beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien. „Günstiger Strom aus Erneuerbaren Energien sollte das Ziel sein“, gibt Torsten Levsen dem SPD-Chef mit auf den Weg als er in den Bus steigt, um nach Kiel zu fahren.
Midyatli verspricht Unterstützung bei Caterpillar
Dort wird er schon von einer Gruppe Frauen und Männern in roten IG-Metall-T-Shirts erwartet. Es sind Beschäftigte von „Caterpillar“, die Anfang Juli erfahren haben, dass das Kieler Motorenwerk geschlossen werden soll – in einer achtminütigen Videobotschaft des amerikanischen Konzern-Managements. Entsprechend ist die Stimmung als sie Norbert Walter-Borjans treffen. Ein paar Meter weiter versinkt langsam die Sonne über der Kieler Förde, doch dafür hat in diesem Moment niemand Augen.
„Eine Betriebsschließung per Video geht gar nicht“, macht der SPD-Vorsitzende gleich zu Anfang klar, ehe er sich die Ideen der Caterpillar-Beschäftigten anhört wie sie ihren Betrieb retten wollen. Viele von ihnen sind bereits in dritter Generation in den Motorenwerk beschäftigt. Eine Schließung des Werks wäre für sie eine Katastrophe. Für Schleswig-Holstein würde es den Wegfall ohnehin rarer Industriearbeitsplätze bedeuten.
Ein Stück Gewerkschaftshaus zum Abschied
„Was können wir tun, um richtig Ramba-Zamba zu machen?“, will Serpil Midyatli von den Beschäftigten wissen. Die SPD-Landesvorsitzende ist direkt nach der Rückkehr aus ihrem Urlaub zu dem Treffen gefahren und brennt darauf, den Arbeiter*innen zu helfen. „Sagt uns, was wir machen sollen. Wenn ihr ruft, bin ich da“, verspricht sie. Das kommt an. Zum Abschied geben die Caterpillar-Beschäftigten Midyatli noch ein großes Transparent mit, das sie zur Unterstützung an das SPD-Parteihaus hängen will.
Und auch Norbert Walter-Borjans erhält ein Geschenk. Frank Hornschu, Geschäftsführer des DGB in der Region Kiel, überreicht dem SPD-Vorsitzenden einen kleinen Kasten mit einem Stück roten Backstein. Es ist ein Teil des 1907 errichteten Kieler Gewerkschaftshauses. „Damit du an uns denkst und bald wiederkommst“, sagt Hornschu.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.