Wahl vor 50 Jahren: Wie Gustav Heinemann zum „Bürgerpräsidenten“ wurde
Am Ende entschieden sechs Stimmen. Als Gustav Heinemann am 5. März 1969 gegen den von CDU und CSU nominierten Gerhard Schröder für das Amt des Bundespräsidenten antrat, musste der dritte Wahlgang entscheiden. Hier reichte für Heinemann die einfache Mehrheit von 512 zur 506 Stimmen, um zum ersten sozialdemokratischen Bundespräsidenten gewählt zu werden. Die SPD hatten eine Mehrheit mit der oppositionellen FDP organisiert.
Gustav Heinemann: Bürgerpräsident statt Staatspräsident
Dabei war Gustav Heinemann lange nicht der favorisierte Kandidat der Parteiführung um Willy Brandt gewesen. Das änderte sich erst im Herbst 1968, weil Heinemann die Anliegen der jungen Generation erst nahm und ihre Forderungen nach einer Demokratisierung der Gesellschaft offen unterstützte. Bereits 1967 hatte er als Bundesjustizminister in der Großen Koalition einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Verjährungsfrist für Nazimorde aufhob. Die Älteren sollten sich ihrer Vergangenheit stellen, fand Heinemann. Auch das Strafrecht reformierte er umfassend und sorgte – gegen massiven Widerstand – dafür, dass Ehebruch und Homosexualität nicht länger als Straftat behandelt wurden.
„Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben“, sagte Gustav Heinemann in seiner Antrittsrede als er am 1. Juli 1969 offiziell als Bundespräsident eingeführt wurde. Er selbst sah sich selbst eher als „Bürgerpräsident“ statt als „Staatspräsident“, wie er in einem Interview betonte.
Der Frieden ist der Ernstfall
Obwohl er gleich doppelt promoviert hatte – in Politikwissenschaft ebenso wie in Jura – trank er mit Arbeitern aus der Bierflasche und kloppte Skat. Im Volk wurde er so schnell respektiert, ja teilweise gar verehrt. Gustav Heinemann sorgte dafür, dass zu den Neujahrsempfängen des Bundespräsidenten nicht nur Diplomaten eingeladen wurden, sondern auch einfache Bürger besonders aus den gesellschaftlichen und Berufsgruppen, die häufig einen schweren Stand haben wie Krankenschwestern, Müllwerker oder Gastarbeiter. Die „Zeit“ bezeichnete ihn verdientermaßen als „Glücksfall für die Demokratie in der Bundesrepublik“.
Heinemanns zweites großes Thema war der Frieden. „Nicht der Krieg ist der Ernstfall (…), sondern der Friede ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben“, betonte er schon in seiner Antrittsrede im Juli 1969. Gustav Heinemann, der über seine Frau Hilda zur Kirche und zum Glauben gefunden hatte, war kein Pazifist, doch die Frage von Krieg und Frieden prägte sein politisches Leben. So trat er 1950, damals noch Mitglied der CDU, als Bundesinnenminister zurück, nachdem Bundeskanzler Konrad Adenauer den USA hinter seinem Rücken ein deutsches Kontingent für eine europäische Armee angeboten hatte.
Neue Heimat in der SPD
In der Folge gründete Heinemann die überparteiliche „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“, der sich Unterstützer aus allen großen Parteien anschlossen und aus der 1952 die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) entstand, deren Mitglied Heinemann wurde. Nachdem sich die GVP aufgelöst hatte, kam er im Mai 1957 zur SPD. Es sollte seine dritte (und letzte) Mitgliedschaft in einer Partei werden, die er in einem Artikel im „Vorwärts“ mit der „Überwindung alter weltanschaulicher Gräben zu einem inneren Zueinander“ begründete. In der SPD war Gustav Heinemann „dort angekommen, wo seine politischen Grundüberzeugungen zu Hause waren“, schrieb der Historiker Otto Dann 2008 in einer Veröffentlichung der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Als sich seine Amtszeit dem Ende entgegenneigte, wünschten sich viele, dass Heinemann im Amt bliebe. Die Mehrheitsverhältnisse hätte ihm eine sichere Wiederwahl garantiert. Doch aus Rücksicht auf seine und die Gesundheit seiner Frau verzichtete Gustav Heinemann und schied am 1. Juli 1974 aus dem Amt des Bundespräsidenten aus. Statt zum üblichen Großen Zapfenstreichs der Bundeswehr lud er zu einer Bootsfahrt auf dem Rhein ein.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.