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vorwärts-Digitalkonferenz: Wie Europa mit einer Stimme spricht

Corona-Krise, rechtsstaatliche Grundwerte, Terrorismus und Brexit – die Herausforderungen für die Europäische Union sind groß. Bei der zweiten vorwärts-Digitalkonferenz ging es am Dienstag um die Frage: „Wie stärken wir den Zusammenhalt in Europa?“
von Vera Rosigkeit · 4. November 2020

Die zweite Digitalkonferenz des vorwärts-Verlags beginnt am Vorabend der US-Wahlen mit einem kurzen Einblick zu möglichen Chancen eines Wahlsieges für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden. Knut Dethlefsen, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Washington, spricht von einer Rekordwahlbeteiligung und einer Wechselstimmung, die sich zugunsten Bidens auswirken könnte.

Europa muss mit einer Stimme sprechen

Für Europa wäre das ein gutes Signal, sagt die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley. Denn wenn die US-Demokraten gewönnen, ließen sich bessere Gespräche führen: „Es wäre hilfreich, wenn die USA wieder konstruktiv mitarbeiten würden“, sagt Barley. Gemeinsam diskutiert sie am Dienstagabend mit Linn Selle, Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD) und dem Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, Michael Roth, die Frage „Wie stärken wir den Zusammenhalt in Europa?“

Roth mache seine Arbeit nicht davon abhängig, wer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werde, betont er gleich zu Anfang. Vielmehr brauche es mehr Emanzipation von einer Politik des Nationalismus und Populismus. „Europa muss stark werden und mit einer Stimme sprechen“, so Roth. Auch Linn Selle ist überzeugt, dass die EU sich unabhängig vom Ausgang der Wahl mehr auf sich selbst fokussieren müsse.

Nein gegenüber autoritären Bestrebungen

Das scheint schwer genug. Denn nicht nur innerhalb der amerikanischen Gesellschaft verlaufen tiefe Gräben, auch Europa polarisiert sich, gibt Moderatorin Ute Welty zu Bedenken. „Wir sehen die Spaltung innerhalb der europäischen Mitgliedsstaaten und auch innerhalb der Gesellschaften“, sagt Barley. Die Politik könne darauf aber Einfluss nehmen. Barley fordert ein klareres Nein gegenüber autoritären Bestrebungen und einer Verletzung von Rechtsstaatlichkeit. Mit sehr großer Sorge sehe sie als Juristin, wie die Unabhängigkeit der Justiz in einigen EU-Staaten angegriffen werde. „Wir können und wollen nicht beeinflussen, welche Regierung in Ungarn gewählt wird, aber wir wollen und müssen beeinflussen, dass sich jede Regierung an die Spielregeln hält.“ Sowohl in Polen als auch Ungarn habe die EU zu lange gewartet.

EBD-Präsidentin Selle unterstützt das Vorhaben, die Auszahlung von EU-Mitteln an Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Aktuell sei die Zusammenarbeit der Europäischen Bewegung mit Serbien sehr eng, denn auch hier gebe es derzeit große Einschränkungen der Zivilgesellschaft und der Meinungsfreiheit. Die Unterstützung habe jedoch Grenzen. Es brauche klare politische Leitplanken, betont sie. Der Hebel müsse das Geld sein. Und das Artikel-7-Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der Union müsse geschärft werden.

Selle für Rechtsstaatlichkeit und gemeinsame Werte

Auch aus Sicht von Michael Roth ist dieses Verfahren zu kompliziert und habe zu hohe Hürden. Zudem seien es Verfahren, die erst wirken, „wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist“, betont er. Ziel der deutschen EU-Ratspräsidentenschaft sei deshalb, das Verständnis unserer gemeinsamen Werte zu stärken. Roth: „Das ist ein schmerzhafter und kontroverser Prozess.“

Mit einem neuen Rechtsstaatscheck würden jetzt vom Rat alle Mitgliedsstaaten dahingehend überprüft, wie es um ihre Rechtstaatlichkeit steht. Bereits in der kommenden Woche würden die ersten fünf Staaten überprüft. Am Ende soll auch die Möglichkeit bestehen, Geld einzubehalten. Das sei derzeit das „heißeste und umstrittenste Eisen“, so Roth. Dennoch wolle man das auf den Weg bringen. Die Möglichkeit, Länder aus der EU auszuschließen, die sich diesem Verständnis entgegenstellten, lehnt Roth hingegen entschlossen ab. Die Menschen, die derzeit in Polen zu Hunderttausenden für Freiheitsrechte auf die Straße gingen, „dürfen wir nicht im Stich lassen“, sagt er. Bitter bilanziert er jedoch, dass es derzeit keinen Konsens mehr darüber gebe, dass die EU eine Werte- und eine Rechtsgemeinschaft sei.

Roth fordert europäische Antwort auf Terrorismus

Linn Selle hat hohe Erwartungen an den geplanten Rechtsstaatmechanismus im EU-Haushalt. Hier erhofft sie sich einen glaubwürdigen Kompromiss und keine zu starke Hinwendung zu jenen Staaten, die kein Interesse daran hätten, dass EU-Gelder an die Einhaltung von EU-Grundrechten verknüpft sind.

Eine klare europäische Antwort erwartet Roth beim Thema Terrorismus. Sowohl der Rechtsterrorismus als auch der Terrorismus, der derzeit den Islam missbrauche, seien ein Angriff auf europäische Werte. Mit Blick auf den Anschlag in Wien am Vortag warnt Roth am Dienstagabend: „Wir dürfen nicht alle Menschen einer Glaubensgemeinschaft ausschließen und unter Generalverdacht stellen. Der Islam und die Menschen islamischen Glaubens gehören zu uns und zu Europa.“

Der Brexit bleibt Thema

Eine weitere Herausforderung an die EU liegt im Ausstieg Großbritanniens. Beim Brexit geht Barley davon aus, dass es am Ende „irgendeine kleinen Kompromiss“ geben werde.  Aber der werde nicht befriedigend ausfallen. Regierungschef Boris Johnson habe schon längst die Interessen seines Landes aus den Augen verloren. Einen geschmeidigen Brexit werde es nicht geben, ist Barley überzeugt. Immerhin sei, wie anfangs befürchtet, Europa nach Verkünden des Brexit nicht auseinanderfallen, betont Selle. Im Gegenteil hätten sich Zustimmungsraten zur Staaten-Union sogar gesteigert. Vielleicht sei der Brexit eine Art „heilsamer Schuss vor dem Bug“ gewesen, so Selle.

Als positive Entwicklung hebt sie die Einigung auf einen 750 Milliarden schweren Corona-Aufbaufonds hervor. Ihrer Meinung nach „ein großer Wandel“. Ein weiteres wichtiges Signal sei es, nicht nochmal wie im Frühjahr geschehen, die Grenzen zwischen den EU-Staaten schließen zu wollen und jeder Staat sich selbst der nächste sei.

„Corona-Virus hat keinen Reisepass“

Barley nennt es einen Webfehler, dass solche Maßnahmen in der Corona-Pandemie in nationalen Alleingängen überhaupt möglich seien. Nach der Finanzkrise, in der schon Vieles schief gelaufen sei, sei mehr auf europäischer Ebene nachgedacht worden. Jetzt in der Gesundheitskrise bekommt die EU punktuell mehr Zuständigkeit in der Gesundheit. „Mich ärgert, dass das immer erst in der Krise passiert“, so Barley. Als Beispiel bezieht sich Barley auf eine Frage aus dem Live-Chat zum Thema Steuern. Warum sich Großkonzerne in Europa immer noch aussuchen könnten, wo sie hingehen? Um dann vorzugsweise nach Irland zu gehen, weil sie dort so gut wie keine Steuern zahlen müssten. „Warum lassen wir uns in Europa noch immer gegeneinander ausspielen?, fragt Barley. In manchen Punkten ginge es auch ihr zu langsam, räumt sie ein.

In der Corona-Krise habe man aus Fehlern gelernt, sagt Roth. Zum Beispiel, dass das „Virus keinen Reisepass“ habe. Doch auch hier ist klar, dass es mehr europäisches Miteinander braucht, beispielsweise bei der Koordination im Hinblick auf die Impfung. Große Sorgen mache er sich um Spanien, Italien und Frankreich, die nicht über einen solchen Finanzrahmen verfügten wie Deutschland und spricht in diesem Zusammenhang von einem sozialen Ausnahmezustand. Doch Roth hofft, dass in einem Jahr die schon länger geplante und wegen Corona verschobene Konferenz zur Zukunft Europas mit ersten Ergebnissen stattfinden kann.

EU-Rettungspaket stimmt zuversichtlich

Linn Selle teilt die Sorge, ob der wirtschaftspolitische Aufschwung in Ländern wie Portugal oder Spanien gelingen kann. Neben dieser wichtigen Herausforderung bleibe, die Frage, wie es beim Thema Rechtsstaatlichkeit weitergeht, für ihre Bewegung von großer Bedeutung.

Für Barley könnte bereits der Ausgang der US-Wahlen eine große Sorge weniger bedeuten, je nachdem, wie sie denn ausgeht. Hoffnung mache ihr auch, dass in Polen und Ungarn die Leute auf die Straßen gehen und so das Thema Rechtsstaatlichkeit nicht nur auf der EU-Ebene behandelt wird. Und auch das EU-Rettungspaket stimmt sie zuversichtlich.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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