WSI-Studie

Verteilungsbericht: Wie Armut in Deutschland die Demokratie gefährdet

Vera Rosigkeit24. November 2022
Schon vor dem enoremn Anstieg der Energiepreise konnten viele Menschen in Deutschland ihre Wohnung nicht ausreichend beheizen.
Schon vor dem enoremn Anstieg der Energiepreise konnten viele Menschen in Deutschland ihre Wohnung nicht ausreichend beheizen.
Keine Reise, selten neue Kleidung und eine kalte Wohnung – in Deutschland wächst die Armut. Das kann auch zur Krise der Demokratie führen. Doch Wissenschaftler*innen haben Vorschläge, was dagegen zu tun ist.

In Deutschland ist der Anteil der Armen deutlich angestiegen. Und das bereits vor der Corona-Pandemie im Zeitraum von 2010 bis 2019. Aus diesen Jahren stammen die Daten des neuen Verteilungsberichts des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Danach stieg der Anteil der Haushalte, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hatten von 14,3 Prozent im Jahr 2010 auf 16,8 Prozent im Jahr 2019. Konkret bedeute das, weniger als 14.500 Euro jährlich (Single-Haushalt) zur Verfügung zu haben, erklärt die WSI-Expertin Dorothee Spannagel in einer Pressekonferenz zur Vorstellung der Studie. Im gleichen Zeitraum sei die Anzahl der Einkommen, die mit unter 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens noch weniger Geld zur Verfügung hatten, von 7,9 Prozent auf 11,1 Prozent gestiegen. Zeitgleich verzeichnet die Studie einen Höchststand bei der Ungleichheit der Einkommen.

Armut ist deutlich gestiegen

„Im Jahr 2019 waren so viele Menschen in Deutschland von Armut betroffen wie nie zuvor und das alles in Vorkrisenzeiten“, sagt Spannagel. Doch was heißt es, dauerhaft in Armut zu leben? Auch darauf gibt die Studie Antworten. So könne sich etwa jeder zweite in Armut lebende Mensch keine jährliche Reise leisten, nahezu 15 Prozent haben kein Geld für neue Kleidung, betont die Wissenschaftlerin. Und schon vor den aktuellen Krisen hätten sich fünf Prozent nicht leisten können, die Wohnung „angemessen zu heizen“. Für Spannagel eine erschreckend hohe Zahl in einem so reichen Land wie Deutschland.

Benachteiligt seien Arme zudem in zahlreichen Lebenslagen: Sie hätten schlechtere Arbeitsbedingungen, geringere Bildungschancen und lebten in beengten Wohnverhältnissen. Auch seien sie häufiger von chronischen Krankheiten betroffen und würden, so Spannagel, „schlichtweg einfach früher sterben als Nicht-Arme“.

Armut wirkt destabilisierend auf die Demokratie

Armut schlägt sich aber auch politisch nieder. Bei vielen Betroffenen führe ihre Lebenslage zu einer größeren Distanz gegenüber dem politischen System: Lediglich 68 Prozent der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, halten die Demokratie für die beste Staatsform, nur 59 Prozent finden, die Demokratie in Deutschland funktioniere gut. Für WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch zeigt sich in diesen Zahlen, dass „Armut die Grundfesten unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken bringen“ kann. Sie wolle das nicht übertonen, fügt sie an, doch man solle die Gefahr ernstnehmen, dass Armut eine Gesellschaft destabilisieren könne.

Im Umkehrschluss bedeutet das für Kohlrauch, dass mehr und wirksameres politisches Engagement gegen Armut nicht nur notwendig sei, „um den direkt Betroffenen zu helfen, sondern auch, um die Gesellschaft zusammenzuhalten.“ Und das umso mehr, als durch die aktuell hohe Inflation und die Energiekrise, künftig auch Menschen von Armut betroffen sein werden, die sich während des vergangenen Jahrzehnts wenig Sorgen um einen sozialen Abstieg machen mussten.

Politisches Handeln wird von den Wissenschaftler*innen des WSI ausdrücklich empfohlen. Denn die Entlastungspakete der Bundesregierung würden zwar bei den von Armut betroffenen Menschen ankommen und ihnen auch helfen, doch an den Strukturen, die zu Armut führen, nichts grundsätzlich ändern.

Ein Plus: Bürgergeld und mehr berufliche Qualifikation

Kohlrausch begrüßt in diesem Zusammenhang, dass durch die Einigung im Vermittlungsausschuss das Bürgergeld schnell kommt. Allerdings, so Kohlrausch, würde die damit einhergehende Erhöhung des Regelsatzes lediglich „einen Inflationsausgleich abbilden“. Enttäuschend sei auch, dass sich der Vorschlag einer „Vertrauenszeit, die das Vertrauen in staatliche Institutionen vermutlich gestärkt hätte, nicht durchsetzen konnte“.

Gleichzeitig sei es gut, dass der Vermittlungsvorrang abgeschafft wurde, denn Menschen, die erwerbslos sind, fehle oft auch die berufliche Qualifikation. „Unter den Armen ist auch die Bildungsarmut ziemlich groß“, sagt Kohlrausch. Die Förderung von beruflicher Weiterbildung erhält daher im Kampf gegen Armut zentrale Aufmerksamkeit. Die Wissenschaftler*innen empfehlen zudem neben der Förderung von Vollzeitstellen, höhere Löhne etwa durch Stärkung der Tarifbindung und Rückbau des Niedriglohnsektors.

Letztendlich plädiert Kohlrausch aber auch für mehr Umverteilung, um einschlägige Maßnahmen zu finanzieren. Sie sei zwar keine Ökonomin, aber es gehe am Ende des Tages nicht nur um das Interesse derjenigen, die möglicherweise mehr Geld haben werden, sondern „dass unsere Gesellschaft als Ganzes davon profitiert, weil sie stabiler bleibt“.

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Kommentare

Das Bürgergeld

„bildet ... lediglich ´einen Inflationsausgleich ab´“, kritisiert der „Verteilungsbericht“ des WSI – (aber) die damit behauptete Erhaltung des Lebensstandards der Bürgergeldempfänger ist falsch. Der für die Inflationsrate angenommene Warenkorb bildet die Lebenssituation der armen Bevölkerung nicht hinreichend ab. Die müssen (fast) ihr ganzes Einkommen für Wohnen, Energie und elementare Lebenshaltung ausgeben. Wer selbst regelmäßig einkauft weiß, dass Mehl und Mehlprodukte, Milch und Milchprodukte, Kartoffeln, Gemüse und Obst für eine Preissteigerung von 10% nicht zu haben sind. Mehl kostet gerade im unteren Preissegment auch 80% mehr; der Preis für Butter hat sich fast verdoppelt; Milch- und Quarkpreise sind mindestens um die Hälfte gestiegen: Eine Inflationsrate für den armen Teil der Bevölkerung würde dramatisch über 10% liegen.

Der Studie ist zuzustimmen, dass es „mehr Umverteilung“ bedarf, um den Armen in unserer Gesellschaft gezielt zu helfen. Allerdings darf es nicht, wie bei der Gaspreisbremse, zu einer Umverteilung von unten nach oben kommen, weil noch immer „ein Mechanismus fehlt, mit dem man zielgenau einkommensschwache Haushalte entlasten könnte“ (G. Horn).

Rudolf Isfort

Dem Kommentar von Rudolf Isfort ist zuzustimmen.

Anstieg der Armut in Deutschland

Dafür gibt es Ursachen

1) Zuzug in die Sozialsysteme ab den 1970ern
Den Zuzug in die Sozialsysteme hat man nicht nur nie gestoppt, sondern seit 2015 auch noch massiv gefördert.

2) Verlust von Arbeitsplätzen durch technischen Rückstand
Mit den Grünen verbreitete sich eine Wissenschafts-, Technik- und Industriefeindschaft in Deutschland, was bspw. zur Stilllegung von AKWs führte.

3) Verdrängung beruflich unqualifizierter durch beruflich qualifizierte Bürger
Die Bildungsausweitung seit den 1960ern führte dazu, dass Millionen von beruflich durch eine duale Ausbildung qualifizierte Bürger beruflich unqualifizierte Bürger verdrängten.

Die Bildungsausweitung seit den 1960ern führte dann aber auch dazu, dass Millionen von akademisch ausgebildeten Bürgern die beruflich dual ausgebildeten Bürger verdrängten.

Und natürlich sind akademisch ausgebildte Bürger letztlich, trotz der grossen Konkurrenz untereinander, etwas teurer als die beruflich dual ausgebildeten Bürger.

Das ist das Bildungsparadox: Alle finden sich nach der Ausbildung auf einer höheren Stufe in der gleichen Konkurrenzsituation wie zuvor wieder.

Man benötigt eben auch eine bessere Wirtschaftspolitik.

Hier die richtige Fundstelle: