Verteilungsbericht: Wie Armut in Deutschland die Demokratie gefährdet
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In Deutschland ist der Anteil der Armen deutlich angestiegen. Und das bereits vor der Corona-Pandemie im Zeitraum von 2010 bis 2019. Aus diesen Jahren stammen die Daten des neuen Verteilungsberichts des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
Danach stieg der Anteil der Haushalte, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hatten von 14,3 Prozent im Jahr 2010 auf 16,8 Prozent im Jahr 2019. Konkret bedeute das, weniger als 14.500 Euro jährlich (Single-Haushalt) zur Verfügung zu haben, erklärt die WSI-Expertin Dorothee Spannagel in einer Pressekonferenz zur Vorstellung der Studie. Im gleichen Zeitraum sei die Anzahl der Einkommen, die mit unter 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens noch weniger Geld zur Verfügung hatten, von 7,9 Prozent auf 11,1 Prozent gestiegen. Zeitgleich verzeichnet die Studie einen Höchststand bei der Ungleichheit der Einkommen.
Armut ist deutlich gestiegen
„Im Jahr 2019 waren so viele Menschen in Deutschland von Armut betroffen wie nie zuvor und das alles in Vorkrisenzeiten“, sagt Spannagel. Doch was heißt es, dauerhaft in Armut zu leben? Auch darauf gibt die Studie Antworten. So könne sich etwa jeder zweite in Armut lebende Mensch keine jährliche Reise leisten, nahezu 15 Prozent haben kein Geld für neue Kleidung, betont die Wissenschaftlerin. Und schon vor den aktuellen Krisen hätten sich fünf Prozent nicht leisten können, die Wohnung „angemessen zu heizen“. Für Spannagel eine erschreckend hohe Zahl in einem so reichen Land wie Deutschland.
Benachteiligt seien Arme zudem in zahlreichen Lebenslagen: Sie hätten schlechtere Arbeitsbedingungen, geringere Bildungschancen und lebten in beengten Wohnverhältnissen. Auch seien sie häufiger von chronischen Krankheiten betroffen und würden, so Spannagel, „schlichtweg einfach früher sterben als Nicht-Arme“.
Armut wirkt destabilisierend auf die Demokratie
Armut schlägt sich aber auch politisch nieder. Bei vielen Betroffenen führe ihre Lebenslage zu einer größeren Distanz gegenüber dem politischen System: Lediglich 68 Prozent der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, halten die Demokratie für die beste Staatsform, nur 59 Prozent finden, die Demokratie in Deutschland funktioniere gut. Für WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch zeigt sich in diesen Zahlen, dass „Armut die Grundfesten unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken bringen“ kann. Sie wolle das nicht übertonen, fügt sie an, doch man solle die Gefahr ernstnehmen, dass Armut eine Gesellschaft destabilisieren könne.
Im Umkehrschluss bedeutet das für Kohlrauch, dass mehr und wirksameres politisches Engagement gegen Armut nicht nur notwendig sei, „um den direkt Betroffenen zu helfen, sondern auch, um die Gesellschaft zusammenzuhalten.“ Und das umso mehr, als durch die aktuell hohe Inflation und die Energiekrise, künftig auch Menschen von Armut betroffen sein werden, die sich während des vergangenen Jahrzehnts wenig Sorgen um einen sozialen Abstieg machen mussten.
Politisches Handeln wird von den Wissenschaftler*innen des WSI ausdrücklich empfohlen. Denn die Entlastungspakete der Bundesregierung würden zwar bei den von Armut betroffenen Menschen ankommen und ihnen auch helfen, doch an den Strukturen, die zu Armut führen, nichts grundsätzlich ändern.
Ein Plus: Bürgergeld und mehr berufliche Qualifikation
Kohlrausch begrüßt in diesem Zusammenhang, dass durch die Einigung im Vermittlungsausschuss das Bürgergeld schnell kommt. Allerdings, so Kohlrausch, würde die damit einhergehende Erhöhung des Regelsatzes lediglich „einen Inflationsausgleich abbilden“. Enttäuschend sei auch, dass sich der Vorschlag einer „Vertrauenszeit, die das Vertrauen in staatliche Institutionen vermutlich gestärkt hätte, nicht durchsetzen konnte“.
Gleichzeitig sei es gut, dass der Vermittlungsvorrang abgeschafft wurde, denn Menschen, die erwerbslos sind, fehle oft auch die berufliche Qualifikation. „Unter den Armen ist auch die Bildungsarmut ziemlich groß“, sagt Kohlrausch. Die Förderung von beruflicher Weiterbildung erhält daher im Kampf gegen Armut zentrale Aufmerksamkeit. Die Wissenschaftler*innen empfehlen zudem neben der Förderung von Vollzeitstellen, höhere Löhne etwa durch Stärkung der Tarifbindung und Rückbau des Niedriglohnsektors.
Letztendlich plädiert Kohlrausch aber auch für mehr Umverteilung, um einschlägige Maßnahmen zu finanzieren. Sie sei zwar keine Ökonomin, aber es gehe am Ende des Tages nicht nur um das Interesse derjenigen, die möglicherweise mehr Geld haben werden, sondern „dass unsere Gesellschaft als Ganzes davon profitiert, weil sie stabiler bleibt“.
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.