Verteidigungspolitik: Viel Lob aus dem Baltikum für Scholz‘ neuen Kurs
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Es war ein außergewöhnlicher Sonntag in Berlin. Als Präsident Putin sein achtjähriges militärisches Abenteuer in der Ukraine eskalieren ließ und am 24. Februar das Land aus drei Richtungen mit Boden- und Luftangriffen überzog, entstand in Windeseile eine neue europäische Sicherheitsarchitektur. In der Sondersitzung des Bundestags am 27.Februar trug Bundeskanzler Olaf Scholz in einer richtungsweisenden Rede federführend zur Ausgestaltung dieser neuen Architektur bei. Mehr als 100 000 Menschen bekräftigten auf den Straßen Berlins an diesem Sonntag ihre Unterstützung für die Ukraine. Der Kanzler griff die Stimmung der Demonstrierenden auf. Er schlug Angela Merkels vorsichtige Haltung in den Wind und distanzierte sich klar von Altkanzler Gerhard Schröder und anderen „Putin-Streichlern“ in seiner SPD. Die Auswirkungen auf die baltische, europäische und euro-atlantische Sicherheit werden gravierend sein.
Während in einem nicht fernen europäischen Land Putins Krieg tobte, gab der Kanzler historische Entscheidungen zur künftigen deutschen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bekannt. Noch einen Monat zuvor hatten die Deutschen im Baltikum und anderswo Kritik geerntet, weil sie Estland untersagt hatten, Waffen deutscher Herkunft an die Ukraine zu liefern. Scholz hatte noch betont, Deutschland exportiere „seit vielen Jahren … keine letalen Waffen“. Nun wurde diese Haltung plötzlich revidiert. Scholz erklärte, dass Deutschland der Ukraine Verteidigungswaffen zur Verfügung stellen werde und kündigte die lange erwartete Erhöhung der Verteidigungsausgaben sowie ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für die Bundeswehr an. Damit erfüllt Scholz das politische Versprechen gegenüber der NATO, die Verteidigungsausgaben bis 2024 auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen. Er verwies auf das NATO-Abschreckungskonzept der nuklearen Teilhabe und erklärte, veraltete Tornado-Kampfflugzeuge müssten ersetzt werden. Putin wiederum gab an diesem Sonntag bekannt, er werde die russischen Atomwaffen in „Alarmbereitschaft“ versetzen.
Scholz: „Kriegstreibern wie Putin Grenzen setzen“
Ziel all dieser Maßnahmen sei es, so Bundeskanzler Scholz, „Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen“. Der von Putin künstlich herbeigeführte Konflikt mit der Ukraine hat in den vergangenen Wochen auch andere Differenzen zwischen Deutschland und seinen baltischen Partnern offengelegt. Dies betraf sowohl die russisch-deutsche Gaspipeline Nord Stream 2 als auch den Ausschluss Russlands aus dem Banken-Kommunikationsnetzwerk SWIFT. Diese Differenzen konnten ausgeräumt werden, als zunächst Bundeskanzler Scholz am 22. Februar das Verfahren zur Zertifizierung der Gaspipeline aussetzte und die EU vier Tage später die Einigung der 27 Mitgliedsstaaten über den SWIFT-Ausschluss wichtiger russischer Banken bekanntgab. Diese Maßnahmen erfolgten zügig und in enger Zusammenarbeit mit den USA und anderen EU-Partnern.
Die Regierungen in Tallinn, Riga und Vilnius müssen diese dramatischen Neuerungen in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorbehaltlos begrüßen und laut applaudieren. Mit dieser radikalen Wende zerstreut die Bundesrepublik die Bedenken, die der frühere polnische Außenminister Radoslaw Sikorski vor zehn Jahren zum Ausdruck brachte, als er erklärte, er fürchte deutsche Macht weniger als deutsche Untätigkeit. Offenkundig ist es mit der Untätigkeit jetzt vorbei. Deutschland überwindet endlich seine zögerliche Haltung und nimmt seine Führungsrolle in Europa an, nicht ohne auch weiterhin den französisch-deutschen EU-Motor auf Drehzahl zu bringen. Die neusten Entwicklungen strafen jedenfalls die Behauptung der renommierten Intellektuellen Māra Zālīte Lügen, Olaf Scholz oder Emmanuel Macron könnten mögliche Partner Wladimir Putins in einer Neuauflage des Ribbentrop-Molotow-Paktes sein.
Für eine stärkere und souveränere EU
Wie wirkt sich diese Kehrtwende auf Lettland und seine baltischen Nachbarn aus? Nach dem Wahlsieg im vergangenen Herbst hatte Scholz erklärt, das wichtigste Thema der deutschen Politik werde die Entwicklung einer stärkeren und souveräneren EU sein. Das ist ein lobenswertes Ziel, das in enger Zusammenarbeit mit der NATO erreicht werden muss. Mit seinem jüngsten Vorstoß im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich hat Scholz den Worten Taten folgen lassen und dem Ziel der EU, sich als geopolitischer Akteur zu profilieren, Auftrieb gegeben. Bedenken der baltischen Staaten hinsichtlich einer größeren strategischen Autonomie – statt „Souveränität“ – der EU, von der in den letzten Jahren die Rede war, könnten hinfällig werden. Hilfreich ist jedenfalls, dass Deutschland laut Scholz mehr strategische Verantwortung für die Ostflanke der NATO übernehmen und „jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes“ verteidigen wird. Um Europa enger zusammenzuschweißen, muss der Kanzler die transatlantischen Beziehungen pflegen.
Die fortgesetzten schrecklichen Angriffe Russlands haben den Blick der deutschen Politik auch auf die Sicherheit Europas im Baltikum gelenkt. In der NATO muss Deutschland die Verteidigung und Abschreckung gegen mögliche weitere imperialistische Vorstöße Putins insbesondere im Baltikum intensivieren. Die angekündigte Erhöhung der deutschen Truppenpräsenz in der NATO Enhanced Forward Presence in Litauen ist begrüßenswert. Eine wichtige Maßnahme ist auch der angekündigte Beitrag zur Verteidigung unseres Luftraums und zur Sicherung der Ostsee. Die Bundesrepublik muss die Modernisierung der europäischen Verteidigung vorantreiben, indem sie Fähigkeiten zur Abschreckung gegen neue Technologien für unkonventionelle Kriegsführung entwickelt. Die Gefahren, die von diesen Technologien ausgehen, kann man gar nicht hoch genug einschätzen.
Deutschland stärkt die NATO
Durch die Erfüllung des Zweiprozentziels der NATO wird Deutschland das transatlantische Bündnis zweifelsohne stärken. Dieser Schritt dürfte künftig jede Kritik aus Washington entschärfen, Deutschland entziehe sich in der NATO seinen Verpflichtungen. Zudem stützt er das Baltikum, das in der kollektiven Verteidigung Europas unmittelbar auf die USA angewiesen ist. Der deutsche Beitrag zum neuen Strategischen Konzept der NATO, das im Juni beschlossen werden soll, wird nun noch mehr Gewicht haben.
Bundeskanzler Scholz' teutonisch-tektonischer Bruch mit der herkömmlichen deutschen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik läutet für die Rolle Deutschlands in Europa, der NATO und der Welt eine neue Ära ein. Hoffen wir, dass er auch dazu beiträgt, Putins Krieg ein Ende zu setzen, in der Ukraine Frieden zu schaffen und für die Menschen in Europa mehr Sicherheit zu gewährleisten.
Dieser Text erschien zuerst bei ipg-journal.de
ist ehemaliger lettischer Diplomat und Verteidigungsminister. Er ist Senior Research Fellow am Latvian Institute of International Affairs.