UNO: Wie die Staatengemeinschaft das Krisenjahr 2022 gemeistert hat
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„Der Multilateralismus liegt auf dem Sterbebett“, erklärte der kenianische UN-Botschafter Martin Kimani kurz vor Ausbruch des Ukrainekriegs. Damit illustrierte er eine verbreitete Einschätzung. schließlich verkündeten Medienberichte auch in Deutschland wahlweise das „Scheitern“, das „Ende“ oder das „Versagen“ des Multilateralismus und die „Ohnmacht“ der „zahnlosen Vereinten Nationen“. Nicht zuletzt der ukrainische Präsident Selenskyj senkte den Daumen über dem bestehenden multilateralen System. Er forderte den UN-Sicherheitsrat medienwirksam auf, der russischen Aggression entweder entschiedener entgegenzutreten oder sich selbst aufzulösen.
Pauschale Abgesänge sind überzogen
Auf den ersten Blick scheinen solche Positionen nur zu gerechtfertigt. Der Krieg in der Ukraine geht bald ins zweite Jahr und so etwas wie eine politische Lösung zeichnet sich nicht einmal am Horizont ab. Ist das nicht ein schlagender Beweis für das klägliche Scheitern der Blütenträume von globaler Ordnung?
Zumal hinzukommt: Der Angriffskrieg ist nicht die einzige Krise, mit der es die Weltgemeinschaft in den vergangenen zwölf Monaten zu tun hatte. Massive Fluchtbewegungen aus dem globalen Süden, immer tiefer gehende Spannungen zwischen westlichen Staaten und der Volksrepublik China, Hunger in weiten Teilen Subsahara-Afrikas und zu guter Letzt ein Korruptionsskandal im Herzen der Europäischen Union. Bei klarem Verstand wird kaum jemand das Jahr 2022 als Jahr der globalen Harmonie bejubeln.
Und doch sind pauschale Abgesänge auf globale Zusammenarbeit und die Rolle der globalen Institutionen in der regelbasierten Weltordnung überzogen. Denn trotz der Krisen zeigt eine abgewogene Analyse: Die globale Zusammenarbeit mag in der Krise stecken, doch am Boden liegt sie nicht. Denn tatsächlich erlebten wir im zurückliegenden Jahr eben keinen Zusammenbruch der globalen Ordnung.
Das System ist nicht kollabiert
Ja, zentrale Normen wurden auf das dramatischste verletzt. Doch das System selbst ist nicht kollabiert und die Institutionen der globalen Kooperation haben sich von den Krisen nicht ins politische Vollabseits manövrieren lassen. Zu beobachten war eher beharrliche Unermüdlichkeit und alles aber kein letzter Atemzug auf dem Sterbebett. Zumal zu betonen ist: Im Ausnahmezustand ist manchmal bereits Business as Usual ein handfester politischer Erfolg.
Vor überzogenen Bewertungen schützt hier nicht zuletzt die historische Perspektive. Denn das etablierte UN-System ist bekanntlich nicht der erste Versuch der Errichtung einer regelbasierten Weltordnung, der von einem eklatanten Regelbruch erschüttert wird. Im Gegensatz aber zum Vorläufer der Vereinten Nationen – dem 1920 gegründeten Völkerbund in Genf – sind die UN eben nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen.
Zur Erinnerung: Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges versank der in Genf ansässige UN-Vorläufer innerhalb von Monaten in völliger Bedeutungslosigkeit. Sitzungungskalender wurden gestrichen, Mitgliedstaaten stellten ihre Beitragszahlungen ein, das Personal wurde entlassen und der Genfer Palais des Nations blieb über Jahre nahezu verweist. Die Organisation wurde zum Schatten ihrer selbst bis sie sich im Februar 1946 selbst auflöste. Ein überzogener Vergleich mit der Gegenwart? Vielleicht. Aber eben darum sinnvoll. Denn die Überzogenheit unterstreicht die bestehenden Unterschiede.
Kooperation im Herzen der UN
Schließlich kann auch in diesen Tagen der Krise von einem Kollaps der Vereinten Nationen nicht einmal in Ansätzen gesprochen werden. Sekretariat und Unterorganisation der UN haben auch im Kriegsjahr ihre Tätigkeit ungerührt fortgeführt. Selbiges gilt für Weltbank und internationalen Währungsfond (IWF). Arbeitsgruppen tagten planmäßig, auch schwierige Konsultationen zu kontroversen Themen wurden angegangen.
Sogar dort, wo Kooperation aufgrund der aufeinanderprallenden Interessen der Großmächte mit Ausbruch des Krieges fast unmöglich schien, kam es zumindest zu punktuellen Kooperationen: Im Herzen der Vereinten Nationen – im Sicherheitsrat. Hier einigten sich die ansonsten zerstrittenen ständigen Mitglieder nicht nur auf die Verlängerung der Friedensmissionen in Haiti, sondern auch einstimmig auf ein umfassendes Sanktionspaket gegen kriminelle Elemente auf der Insel.
Auch die Verlängerung der politischen UN-Mission in Afghanistan wurde vom Sicherheitsrat über die bestehenden Gräben hinweg beschlossen. Genau das aber zeigt, dass Staaten eben auch über grundsätzliche Gegensätze hinweg zumindest bislang durchaus weiterhin an dem Funktionieren des Systems Interesse haben.
Die entscheidende Plattform der globalen Öffentlichkeit
Auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen – die Versammlung aller UN-Mitgliedsstaaten – fand planmäßig und das erste Mal nach Ende der Pandemie unter weitgehend normalen Bedingungen in New York statt. Und zwar unter umfassender Beteiligung aus aller Welt.
Auch jenseits der Vollversammlung im Herbst kam die Generalversammlung im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wiederholt zusammen, um das russische Vorgehen zu verurteilen. Dies nicht zuletzt unmittelbar nach Kriegsausbruch unter Berufung auf eine als historisch zu bezeichnende Uniting for Peace Formel, mit der die Blockade des Sicherheitsrats zumindest kurzfristig umgangen werden konnte.
Damit aber zeigte die Weltorganisation nicht zuletzt, dass die Vereinten Nationen ihre Rolle als DIE entscheidende Plattform der globalen Öffentlichkeit nach wie vor ausüben.
Sicher, den Krieg konnten auch diese Schritte nicht stoppen. Und die Abstimmungen in der Generalversammlung fielen bisweilen weniger eindeutig aus als sich gerade westliche Beobachter dies wünschten. Nicht zuletzt bedeutende Länder des globalen Südens wie Brasilien, Indien und China hielten sich mit ihrer Kritik am russischen Vorgehen zurück. Dennoch aber ist klar: Ein Kollaps des UN-Systems und eine Aufkündigung nicht zuletzt der moralischen Autoritär der UN sähe anders aus.
Der Blick richtet sich nach vorn
Im Krisenjahr 2022 haben sich die Vereinten Nationen damit vielmehr an eine Rolle angenähert, die sie historisch bereits durch die Jahrzehnte des kalten Kriegs innehatten: Die eines globalen Forums, in dem grundlegende ideologische Konflikte zwar nicht im Eilverfahren behoben, aber doch zumindest debattiert werden können. Und in dem punktuell in Fragen wirklich übergreifender Interessen auch über Gegensätze hinweg Kooperation möglich ist.
Ein Beispiel hierfür ist etwa die erfolgreiche Vermittlung der Vereinten Nationen unter persönlichem Einsatz des Generalsekretärs in wichtigen Abkommen zur Sicherung von Getreidelieferungen aus der Ukraine aber auch die zahlreichen humanitären Missionen, die im Krisenjahr fortgesetzt wurden.
Auch im Selbstverständnis der Organisation kann von Selbstaufgabe keine Rede sein. Im Gegenteil: Zwar ist der Schock über die Rückkehr militärischer Gewalt nach Europa auch unter den Diplomaten der Vereinten Nationen deutlich greifbar, doch auch hier richtet sich der Blick nach vorne.
Zur Ausgestaltung der zukünftigen Rolle der UN hat Generalsekretär Antonio Guterres eine Kommission für die Zukunft der globalen Zusammenarbeit berufen und einen umfassenden Konsultationsprozess ins Leben gerufen, der die Arbeit der UN für die Herausforderungen der Zukunft fit machen soll.
Licht und Schatten bei internationalen Konferenzen
Auch jenseits der Vereinten Nationen im engeren Sinne gab es im Jahr 2022 nicht nur Rückschläge zu verzeichnen. Im November fand in Sharm El Sheikh der COP-27 Klimagipfel mit Tausenden von Teilnehmern statt, der durchaus konkrete Ergebnisse zeitigte. Und nicht zuletzt gelang der Staatengemeinschaft auf dem Weltnaturgipfel in Montréal im Dezember ein durchaus überraschender Durchbruch in Sachen Schutz von Bio-Diversität.
Komplizierter gestaltete sich das Bild in Sachen Abrüstung. Im August 2022 trafen sich die 191 Mitgliedstaaten des Nicht-Verbreitungsvertrags von Kernwaffen (NVV) zwar immerhin, um die ursprünglich für 2020 geplante zehnte NVV-Konferenz nach viermaligem Verschieben endlich durchzuführen. Doch spätestens der Krieg in der Ukraine hatte bereits im Vorfeld klargemacht, dass mit konkreten Ergebnissen eher nicht zu rechnen sein würde.
Etwas erfolgsversprechende Entwicklungen gab es dagegen im Bereich biologische Waffen – von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet. Ende des Jahres trafen sich in Genf mehr als 180 Vertragsstaaten der Biowaffen Konvention, um einen Mechanismus zur konkreteren Überwachung von biologischen Waffen auszuhandeln. Mit einem Ergebnis ist kurzfristig nicht zu rechnen. Doch vorsichtiger Optimismus über die Wiederbelebung des lange eingeschlafenen Prozesses scheint gerechtfertigt.
Auch die G20 haben sich im zurückliegenden Jahr als durchaus handlungsfähige Organisation erwiesen. Sicher gab es auch hier Verstimmungen – wiederholt wurden Sitzungen von Teilnehmer*innen überstürzt verlassen – doch trotz Meinungsverschiedenheiten konnte das vorgesehene Treffen der Gruppe in Bali wie geplant durchgeführt werden. Sogar auf eine gemeinsame Erklärung konnten sich die Staats- und Regierungschefs verständigen.
Globale Kooperation bleibt entscheidend
Schon der nur kursorische Rückblick über verschiedene Ebenen der globalen Kooperation zeigt: Für pauschale Resignation in Sachen globale Zusammenarbeit und die regelbasierte Ordnung insgesamt besteht auch im Jahr 2022 keine Veranlassung. Der Krieg hat das System zwar erschüttert, aber nicht beseitigt. Die Institutionen leben und es liegt an internationalen Akteuren wie nicht zuletzt der Bundesregierung, sie mit Leben zu füllen, und dabei pragmatisch und umsichtig Allianzen zu stärken und weiterzuentwickeln.
Dabei ist freilich auch entscheidend, sich von überzogenen Erwartungen zu befreien. Die entstehende multipolare Welt ist ein komplizierter und immer wieder auch ein gefährlicher Ort. Globale Kooperation wird entscheidend bleiben. Dies betrifft nicht nur den Klimawandel, sondern auch die Absicherung des Weltwirtschaftssystems und die Überwindung der Pandemiefolgen.
Wenn das Jahr 2022 als Richtschnur für die Zukunft herangezogen wird, entsteht am Horizont dabei weder die Utopie eines „ewigen Friedens“ noch die apokalyptische Vision des totalen Zusammenbruchs, sondern eher eine schwierige, konfliktreiche, oft frustrierende aber eben bisweilen auch inspirierende Gemengelage. Die aber ist für die Politik diesseits des Sterbebetts – und für das Leben selbst – noch stets bezeichnend gewesen.
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York und ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Zuletzt erschien vom ihm „Vom Ende der Freiheit. Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird“ (Dietz 2021).