Umgang mit Russland: Was Europa vom Baltikum lernen kann
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Die baltischen Staaten haben nach dem russischen Angriff auf die Ukraine die Entscheidung getroffen, kein russisches Gas mehr zu importieren. Wie ist das so schnell möglich?
Ohne allzu tief in die Geschichte der lettisch-baltischen oder der baltisch-russischen Beziehungen einzugehen, ist der Anlass für die Entscheidung natürlich der Krieg. Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen haben das Gefühl, dass gerade die Energieimporte aus Russland Geld in die russische Kriegskasse spülen. Außerdem glauben sie, dass Russland in der jetzigen Lage irgendwann sowieso den Gasexport stoppen wird. Daher die Entscheidung, selbst aktiv zu werden. Dazu kommt, dass die drei baltischen Länder zum Teil vorgesorgt haben. In Litauen gibt es ein Flüssiggas-Terminal, in Lettland ein recht gut gefülltes Depot. Und seit 2020 ist das baltische Gasnetz über eine von der EU kofinanzierte Pipeline auch an das finnische Netz angeschlossen.
Ist das eine langfristige Lösung, um die Gasversorgung auch in Zukunft sicherzustellen?
Ja, zum Teil sind die jetzigen Lösungen schon längerfristig geplant gewesen. Das Terminal in Klaipėda in Litauen ist 2014 fertiggestellt worden, sodass sich das Land recht gut mit Gas versorgen kann. Es gibt zudem von Litauen aus eine Pipeline nach Polen. Desgleichen wird auch der Transportweg von Litauen nach Lettland und nach Estland erweitert werden. Die drei baltischen Staaten waren lange Zeit innerhalb eines Verbundsystems eng mit Russland und Belarus vernetzt. Das abzustellen und neu zu regeln, ist nicht ganz einfach. Estland und Lettland beraten, ein Flüssiggas-Terminal gemeinsam zu bauen oder zumindest eine vorübergehende Lösung zu finden.
Wie reagiert die Bevölkerung auf das Importverbot?
Eine Explosion der Energiepreise wird erwartet, an der Tankstelle ist es bereits zu spüren. Vermutlich kulminiert das in nächster Zukunft, dann wird es vermutlich auch eine Reaktion der Bevölkerung geben. In den 1990er Jahren haben die baltischen Staaten eine stark wirtschaftsliberale Transformation durchgemacht, mit sehr am Markt orientierten Reformen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Sozialstaatliches Eingreifen war aufgrund der sowjetischen Geschichte, aber auch aufgrund der wirtschaftlichen Engpässe, nicht erwünscht und möglich. Nun aber wird überlegt, ob es nicht doch Subventionen geben sollte, eben gerade weil die Bevölkerung erwartbar leiden wird. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage in Lettland zum Vertrauen gegenüber Parteien und Staat ergab, dass dies nicht besonders groß ist.
Zum anderen ist die Bevölkerung der drei baltischen Staaten sehr solidarisch, wenn es darum geht, ihre Sicherheitslage, insbesondere mit Blick auf Russland, zu stärken. Man ist zu bemerkenswerten Opfern bereit. Das hat man bei der Finanzkrise 2008 gesehen, wo die Gehälter für Beamte um bis zu 20 Prozent gekürzt wurden. Die Bevölkerung machte das mit, weil sie das Gefühl hatte, es gebe keine Alternative, um ihre Unabhängigkeit zu schützen. Es gibt inzwischen anderthalb Generationen, die – seit der Unabhängigkeit vor über 30 Jahren – nicht in der Sowjetunion aufgewachsen sind. Ob sie bereit sind, solche Härten auf sich zu nehmen, wird man sehen müssen.
Die Energieunabhängigkeit wurde ja auch dadurch motiviert, dass Russland die Abhängigkeit von Energieimporten als politisches Druckmittel nutzen könnte. Die Warnungen der baltischen Staaten an den Rest Europas wurden aber bisher nicht wirklich ernst genommen. Woran liegt das?
Ich glaube, bei Ländern wie Deutschland gab es andere, übrigens auch durch den Kalten Krieg geprägte Erfahrungen. Damals floss das Gas auch in schwierigen Zeiten, wie beim Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Für die Balten allerdings waren historische Erfahrungen mit Russland zumeist negativ, vor allem weil sie von 1944 bis 1990 ungewollt Teil der Sowjetunion waren und deshalb nicht frei und souverän. Gleichwohl hat auch Deutschland eine schwierige Beziehung zur Sowjetunion gehabt, denken Sie nur an die Teilung. Die Strategie der gegenseitigen Abhängigkeit schien für Deutschland politisch, aber auch wirtschaftlich, von Vorteil. So sollte Sicherheit geschaffen werden. Ich bin mir nicht sicher, ob man sagen kann, dass die Warnungen nicht ernst genommen worden sind.
Zumal es deutlich günstiger ist, Erdgas über eine Pipeline zu beziehen, als sich hauptsächlich auf Flüssiggas zu verlassen. Ganz abgesehen von den Umweltkosten, die durch den Transport von Flüssiggas in zumeist dieselgetriebenen Tankern entstehen. Aber wie wir nun sehen, hat Deutschland im Bereich Flüssiggas relativ wenig getan. Die Litauer dafür umso mehr. Diese Entscheidung war rückblickend weitsichtig. Der nun nötige Ausbau in Deutschland wird vermutlich die Bürgerinnen und Bürger viel Geld kosten. Der baltische Ansatz war es, Sicherheit zu generieren, indem man die Abhängigkeit von Russland verringert. Für Deutschland, aber auch für einige andere Staaten, war es eben umgekehrt: Gerade die Abhängigkeit voneinander sollte Sicherheit schaffen. Zumindest garantiert dieser Ansatz das Instrument der Sanktionen. Diese wären ohne wirtschaftliche Beziehungen kaum möglich.
Was können die anderen europäischen Staaten von den Balten lernen?
Von den Balten lernen bedeutet, die feinen Sensoren kleinerer Staaten gegenüber Unsicherheiten ernster zu nehmen. Manchmal ist Abgrenzung ein politisches Instrument. Das Beispiel Energie zeigt, dass der Ansatz ganz offensichtlich genau richtig war. Gleichzeitig muss ein großes Land wie Deutschland über die eigenen Sicherheitsinteressen hinausschauen. Und der Ansatz von Deutschland – aber auch der von Frankreich – war, dass es schwierig sein wird, langfristige Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Europa gegen Russland sicherzustellen. Davon sollten vor allem die Länder Osteuropas, zu denen ja auch die Ukraine oder Georgien gehören, profitieren. Dieser Ansatz der unteilbaren europäischen Sicherheit war die Grundlage der Arbeit der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Wie haben die Russen auf die Entscheidung der baltischen Staaten reagiert?
Die russische Propaganda befasst sich kaum mit dem Thema. Und wenn, dann behauptet sie, dass der Schaden auf baltischer Seite liege. Für russische Geschäfte ist der baltische Markt recht klein. Außerdem hat Russland nun ja selbst die Pipeline Richtung Polen und Bulgarien abgeschaltet. Im Augenblick herrscht ein Nebel von Desinformation, dass es schwerfällt, genau zu sagen, wie hart die Sanktionen das russische Volk tatsächlich treffen werden. Es wird natürlich Effekte haben, doch diese treten nicht von heute auf morgen ein. Aber laut Wirtschaftsexperten wird die westliche Abkopplung von Russland dessen Wirtschaft sehr zu schaffen machen.
Hat sich die russische Minderheit in den baltischen Staaten zum Krieg in der Ukraine geäußert?
In Estland gehören ungefähr 26 Prozent der Bevölkerung der russischsprachigen Minderheit an, in Lettland sind es circa 30 Prozent. Von Letzteren geben etwa 60 Prozent keine Antwort, wenn sie nach ihrer Meinung zu Russlands Angriffskrieg gefragt werden. Etwa 16 Prozent halten ihn für in Ordnung, etwa 30 Prozent sind für die Ukraine. Nun ist die russischsprachige Minderheit hier eine sehr komplexe Bevölkerungsgruppe, die einerseits aus Bürgerinnen und Bürgern mit lettischem Pass besteht und andererseits aus Personen, die weder die lettische noch die russische Staatsbürgerschaft haben. Diese Personen haben ein Dokument, das von der lettischen Verfassung anerkannt ist und ihnen die Reise sowohl innerhalb der EU als auch nach Russland erlaubt, aber keine politischen Rechte wie Wahlbeteiligung gewährt.
Wie nehmen die Balten Russland wahr?
Um das zu beantworten, braucht es einen Blick in die Geschichte: Seit dem Nordischen Krieg unter Peter dem Großen sind die Gebiete, die heute estnisch und lettisch sind, Teil des russischen Zarentums geworden; lange Zeit waren sie unter deutsch-baltischer Verwaltung. In Litauen ist das anders, weil die Gebiete Teil des litauisch-polnischen Reiches waren und deren Geschichte sich anders entwickelt hat. Gleichwohl wurden auch sie ab dem Ende des 18. Jahrhunderts Teil Russlands.
Zwischen 1918 und 1940 waren die baltischen Staaten unabhängig. Das Geheimabkommen zwischen Deutschland und der Sowjetunion schlug sie jedoch der Sowjetunion zu, die 1940 dort einmarschierte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieben alle drei sowjetischen Republiken gegen ihren Willen bis 1990 Teil der Sowjetunion. Während sich die Staaten des Westens zur Zeit des Kalten Krieges in Freiheit wirtschaftlich entfalten konnten, waren die baltischen Staaten unfreie Sowjetrepubliken, die sich gern anders entwickelt hätten. Die baltische Identität ist damit immer in ihrer Abneigung gegen Russland verbunden. Moskau stand nicht für Freiheit, sondern für Unterdrückung.
Dementsprechend schlecht ist das Verhältnis. Lettland als geografischer Mittelpunkt war besonders betroffen von der Sowjetisierung. Hier wurden größere Industrien angesiedelt, deren Produkte in die ganze Sowjetunion geliefert wurden. Für die Russen war das Baltikum der innersowjetische Westen, die Kulisse von Filmen, die vorgaben, in Paris, Prag oder Berlin gedreht worden zu sein. In Litauen lebt nur eine kleine russische Minderheit, sodass man dort heute kaum noch Russisch auf der Straße spricht. Das liegt auch an der Geschichte. Im 14. Jahrhundert schloss sich das Großfürstentum Litauen mit dem Königreich Polen zusammen und war ein Gegenpol zum Moskowiter Reich. Die polnischen Teilungen beendeten diese Konkurrenz. So weit in die Geschichte schaut man im Baltikum natürlich nicht ständig zurück. Wohl aber wird immer wieder der Vorwurf laut, dass die drei Staaten sich ohne dieses Joch ganz anders hätten entwickeln können. Die Sowjetunion habe die wirtschaftliche Entwicklung gestoppt und das dürfe nicht wieder geschehen.
Werden wir gerade Zeugen der Entstehung sogenannter baltischer Werte, wenn man das so nennen kann?
Die drei Staaten würden es vielleicht als eine baltische Adaption amerikanischer Werte verstehen im Sinne einer sehr normengeprägten Außenpolitik. So wie die Amerikaner ihr Vorgehen begründen, auch wenn sie militärisch eingreifen. Die Grundlage einer werteorientierten Außenpolitik, auf die sich auch die EU beruft, wird in diesen drei Ländern und insbesondere in Litauen sehr ernst genommen. Entscheidungen treffen die Politikerinnen und Politiker dann bisweilen sehr schnell und rigoros. So wie beispielsweise im Fall der Aufwertung des Status der diplomatischen Repräsentanz Taiwans. Mit diesem Schritt setzte man sich der Kritik Chinas aus, inklusive der damit einhergehenden politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen. Dies war durchaus auch innenpolitisch schwierig. In Litauen sind diese Entscheidungen der Regierung teils sehr umstritten und werden als voreilig kritisiert, da negative Konsequenzen für den eigenen Wohlstand befürchtet werden.
Meine Beobachtung ist, dass die politische, aber auch die öffentliche Debatte auf einem sehr britischen und amerikanischen Verständnis internationaler Politik basiert. Damit meine ich den eher hemdsärmeligen Ansatz, nicht den abwägenden, für den vor allem – aber nicht nur – Deutschland steht. Man liest eben eher die New York Times oder den Economist, nicht zuletzt aufgrund der Sprachbarrieren, die beim Deutschen oder Französischen bestehen. Insofern werden die FAZ, die Süddeutsche oder Der Spiegel kaum rezipiert.
Freilich sollten wir nicht in Abgrenzungen denken. Die baltischen sind Teil der europäischen Werte und basieren auf den gleichen historischen Erfahrungen. Die geografische Nähe zu Russland sowie die enge gemeinsame und doch oftmals wenig positive Erfahrung mit dem Land haben die drei baltischen Staaten besonders sensibilisiert. Deutschland und andere EU-Staaten sollten dies wahrnehmen und daraus für die Zukunft die Grundlage für eine europäische Ostpolitik schaffen. Gleichzeitig gilt es andersherum von deutscher Seite zu erklären, dass unsere historische Erfahrung nicht deckungsgleich ist. Daraus sollte aber kein Dissens entstehen, sondern ein besseres Verständnis für eine bessere Politik.
Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.
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ist Redakteurin beim englischsprachigen Online-Journal International Politics and Society (IPS).