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Taliban: „Man sollte mit einem Vertrauensvorschuss vorsichtig sein.“

Wie geht es weiter in Afghanistan nach dem Sieg der Taliban? Der Journalist Emran Feroz geht davon aus, dass sich immer mehr Staaten mit dem Regime arrangieren werden. Gleichzeitig warnt er vor einem allzu großen Vertrauensvorschuss.
von Anja Wehler-Schöck · 23. August 2021
Taliban-Kämpfer in Kabul: Man sollte mit einem Vertrauensvorschuss vorsichtig sein, meint der Journalist Emran Feroz.
Taliban-Kämpfer in Kabul: Man sollte mit einem Vertrauensvorschuss vorsichtig sein, meint der Journalist Emran Feroz.

Sind Sie überrascht, dass es den Taliban nach dem internationalen Truppenabzug so schnell gelingen konnte, in ganz Afghanistan die Herrschaft zu übernehmen?

Abgesehen von Kabul, wo ich das in dieser Geschwindigkeit nicht erwartet hätte, bin ich nicht überrascht. In den vorausgegangenen Wochen sind mehrere Provinzhauptstädte nacheinander gefallen, darunter Kundus, Masar-i Scharif, Herat, Dschalalabad, Kandahar. Es wurde lange übersehen, dass die Taliban in den umliegenden Distrikten schon seit Jahren präsent waren. Im richtigen Moment sind sie dann aus dem Schatten hervorgetreten. Und auf einmal kippte alles.

Warum hatten die Regierungstruppen, die in den letzten zwanzig Jahren vom Westen ausgebildet und ausgestattet worden waren, den Taliban so wenig entgegenzusetzen?

Der afghanische Sicherheits- und Regierungsapparat, der in den letzten zwei Jahrzehnten errichtet wurde, war zutiefst korrupt. Diese Korruption zog sich durch alle Bereiche in Afghanistan. Führende Beamte und Militärs haben sich viel Geld in die eigenen Taschen gesteckt, während den Soldaten vor Ort in den Provinzen oftmals ein Mindestmaß an Ausstattung fehlte. Ich war im Frühjahr in der Provinz Kunar unterwegs und habe dort Soldaten an der Grenze zu Pakistan besucht. Sie sahen abgemagert aus und es war offensichtlich, dass es ihnen an vielem mangelte. Sogar für ihr Trinkwasser mussten sie ihren Stützpunkt verlassen und von einem hohen Hügel ins Tal laufen, um die Kanister zu füllen. Alle stellten sich dieselbe Frage: Warum wird für diese Soldaten noch nicht einmal eine Wasserleitung zum Stützpunkt gelegt, während die führenden Militärs in fetten Palästen wohnen, Immobilien in Dubai besitzen und private Sicherheitsunternehmen betreiben?

Die Korruption hat viele Gräben geschaffen. Die jungen Soldaten, die hauptsächlich aus armen Familien stammten, wurden in den letzten Jahren als Kanonenfutter verheizt. Die politischen Eliten schickten ihre eigenen Kinder nicht in den Krieg, sondern verlagerten ihre Familien meist ins Ausland. Lange konnte das nicht gutgehen. Viele Soldaten waren vollkommen demoralisiert und ließen diesen Dominoeffekt geschehen, weil man einfach nicht mehr für die korrupte Elite in Kabul kämpfen wollte. Vereinzelt soll es auch zu Deals zwischen den Taliban und Regierungstruppen gekommen sein.

Was hätte man anders machen müssen in den letzten zwanzig Jahren? Wie hätte man den Einsatz gestalten müssen, um Frieden und Stabilität in Afghanistan zu schaffen?

Einer der grundlegendsten Fehler war, dass sich die westlichen Truppen vor zwanzig Jahren mit brutalen Warlords, kriminellen Drogenbaronen und allerlei anderen fragwürdigen Akteuren verbündet haben, um die Taliban zu bekämpfen. Diese standen den Taliban oft in Sachen Brutalität und Menschenfeindlichkeit in nichts nach. Tatsächlich zählten sie sogar zu den Hauptgründen, warum die Taliban in den 90er Jahren überhaupt an die Macht kommen konnten. Man hat sich dennoch mit diesen Menschen verbündet, um eben gegen die Taliban vorzugehen. In dieser wichtigen Zeit des Petersberg-Prozesses hat man alle Akteure eingebunden, nur die Taliban nicht, die damals massiv geschwächt waren. Aber das hätte man machen sollen, dadurch hätte man sich viele Jahre Krieg ersparen können. Bush, Rumsfeld und Konsorten waren eben ganz auf den „War on Terror“ fixiert. Die Taliban konnten sich währenddessen neu organisieren und wurden wieder stärker.

Waren die Anstrengungen der letzten zwanzig Jahre sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich also völlig umsonst?

Für manche gilt das tatsächlich, weil sie sehr an der Oberfläche blieben. Viele der „positiven Errungenschaften“ haben nie die Städte Afghanistans verlassen. Schon wenn man in die Randbezirke fuhr, merkte man, dass die ländlichen Strukturen überhaupt nicht von dieser Entwicklung profitierten. Und da kommen wir auch wieder auf das Thema Korruption zurück.

Bei alldem muss man es aber den Afghanen hoch anrechnen, dass sie trotz massiver Missstände große Fortschritte angestoßen haben. Beeindruckend ist zum Beispiel die Anzahl von Journalistinnen, die es heute in Afghanistan gibt.

Die USA haben mit den Taliban verhandelt. Können Sie sich vorstellen, dass es unter dem Taliban-Regime so etwas wie „normale“ Beziehungen zu Afghanistan geben kann?

Meiner Meinung nach wird es auf regionaler Ebene sehr bald normale Beziehungen mit den Taliban geben. China, Russland, Iran, Pakistan und die zentralasiatischen Staaten haben sich längst mit ihnen abgefunden. Die Taliban haben zu diesen Akteuren in den letzten Jahren gute Verbindungen aufgebaut. Ich gehe davon aus, dass mehrheitlich muslimische Staaten die Taliban schnell anerkennen werden.

Die Frage ist, wie die Beziehung zum Westen sein wird. Die Amerikaner haben mit den Taliban ja bereits verhandelt und werden das bestimmt weiterführen. Bei der EU habe ich die Sorge, dass es aufgrund der aktuellen Anti-Flüchtlingsstimmung in Europa zu einem raschen Einlenken kommt. Wenn die ersten EU-Staaten weiter nach Afghanistan abschieben, werden sie sich mit den Taliban arrangieren. Man geht quasi über Leichen, um diese Politik fortzusetzen.

China hat den neuen Machthabern in Kabul freundliche Beziehungen angeboten und angekündigt, eine konstruktive Rolle beim Wiederaufbau spielen zu wollen. Was ist das Kalkül Chinas? Was bedeutet das geostrategisch?

Ich gehe davon aus, dass der chinesische Einfluss in Afghanistan demnächst massiv zunehmen wird. Die Taliban haben gute Beziehungen zu China aufgebaut. Themen wie die Unterdrückung der Uiguren werden dabei ausgeblendet – obwohl es sich um eine muslimische Minderheit handelt. Der Angriff auf die Umma, die Gemeinschaft der Muslime in der Welt, wird von den Taliban verharmlost und ihre Beziehungen zu China werden realpolitisch gerechtfertigt. Gleichzeitig hat die chinesische Regierung wohl die Sorge, dass Afghanistan – wenn sie zu den Taliban keinen engen Draht hat – eventuell zu einer Heimstätte für geflüchtete Uiguren wird. Unter diesen könnten sich dann extremistische Akteure entwickeln, die zur Bedrohung für China würden.

Was erwartet nun das afghanische Volk? Wird es wieder Zustände wie vor 2001 geben oder wollen die Taliban nun eine moderatere Herrschaft ausüben?

Vor allem ärmere Menschen und die Landbevölkerung werden einfach nur froh sein, dass in Afghanistan – falls es denn so sein sollte – etwas Ruhe einkehrt, dass eine gewisse Sicherheit garantiert wird, auch wenn das durch die Taliban geschieht. Viele werden erleichtert sein, sich nicht ständig vor irgendwelchen Bombenangriffen und Militäroperationen fürchten zu müssen. Ein Freund in Kabul meinte: „Stell dir vor die ganze Woche passiert jetzt nichts, dann wäre das die friedlichste Woche seit über vierzig Jahren.“ Obwohl die Taliban ein Schreckensregime waren, erinnern sich viele Menschen daran, dass es damals jedenfalls sicher war.

Im Westen oder unter privilegierten Afghanen werden oft die universellen Werte und die persönlichen Freiheiten in den Mittelpunkt gerückt. Aber für viele Durchschnittsafghanen ist das alles noch weit weg. Für sie hat Sicherheit Priorität; dass sie, wenn sie unterwegs sind, nicht angegriffen oder von einer Diebesbande ausgeraubt werden. Die Kriminalitätsrate war in den Städten in den letzten Jahren sehr hoch. Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Regierung versagt hat, und hoffen jetzt in irgendeiner Art und Weise auf die Taliban.

Demgegenüber steht natürlich die ungeheure Angst, die viele Menschen vor dem Regime haben. Fast alle meine weiblichen Verwandten in Afghanistan fühlen sich unsicher. Sie wissen nicht, was mit ihnen passieren wird, ob sie noch weiter zur Schule oder in die Uni gehen oder arbeiten dürfen. Die Taliban haben das zwar alles zugesichert. Aber man muss bedenken, dass wir uns noch ganz am Anfang des wiederbelebten Taliban-Emirats befinden. Wir können dem Regime jetzt keinen Freifahrtschein geben und sagen: „Super, ihr habt euch verändert. Das passt alles.“ In Regionen, die bereits seit längerem von den Taliban kontrolliert werden, herrschen zum Teil wieder puritanische Zustände. Oft sind das ländliche Regionen, von denen man nicht viel mitbekommt. Das sollte man auch im Auge behalten. Dort fanden auch schon Racheaktionen statt, obwohl die Taliban in ihren Pressekonferenzen betonen, dass für alle, außer bekannte Kriegsverbrecher und Warlords, eine Amnestie bestehe. Das ist nur Rhetorik, zur Beruhigung. Ich glaube nicht, dass die Taliban hier einen Vertrauensvorschuss verdienen.

In den letzten Tagen waren schockierende Bilder von verzweifelten Menschen zu sehen, die versuchen, irgendwie das Land zu verlassen. Was kann in dieser Situation noch getan werden, um die Menschen in Afghanistan zu unterstützen?

Sobald es um solche Fragen geht, hört man seitens der Politikerinnen und Politiker oft, dass man ja nicht ganz Syrien oder ganz Afghanistan nach Europa bringen könne. Das verlangt auch niemand. Aber es gibt ohne Zweifel Punkte, bei denen die europäischen Regierungen eine Mitverantwortung tragen. Da kann man sich jetzt nicht einfach wegducken. Viele Ortskräfte hängen noch fest, oft aufgrund bürokratischer Details. Beschäftigte von Subunternehmen, die für die Bundesregierung gearbeitet haben, werden beispielsweise nicht anerkannt. Ich bin im Fall einer solchen Ortskraft an die Bundesregierung herangetreten, aber man hat mich einfach abgebügelt, ohne Argumente hören zu wollen: „Wir sind nicht zuständig.“ Ich höre auch von etlichen Deutsch-Afghanen, die nicht aus dem Land kommen. Und dann gibt es noch die Gruppe der teils rechtswidrig abgeschobenen Geflüchteten. Wir müssen auf die Regierung Druck ausüben, damit diesen Menschen, für die Deutschland eindeutig verantwortlich ist, geholfen wird.

Das letzte Taliban-Regime hat Al-Qaida damals erheblichen Freiraum gegeben und so maßgeblich zu deren Erstarkung beigetragen. Sehen Sie im aktuellen Taliban-Regime auch eine Gefahr nach außen? Wird Afghanistan wieder zu einem „safe haven“ für terroristische Gruppierungen?

Ich schätze das Risiko hier derzeit eher als gering ein. Aber es ist natürlich schwer zu prognostizieren. Al-Qaida war in den letzten zwanzig Jahren in Afghanistan kein dominanter Akteur mehr. Die höchsten NATO-Generäle konnten nicht beantworten, ob sich in Afghanistan vier oder 4.000 Al-Qaida-Kämpfer befinden. Gleichzeitig wurde aber das Ziel, dass man Al-Qaida insgesamt schwächt, nicht erreicht. Das Terrornetzwerk hat sich global erfolgreich ausgebreitet, nicht in Afghanistan, aber eben in Somalia, im Jemen, in Syrien und an vielen anderen Orten. Die Taliban haben in ihrem Abkommen mit den Amerikanern versichert, dass Afghanistan kein „save haven“ mehr für solche Akteure sein werde. Allerdings gilt auch hier: Man sollte mit einem Vertrauensvorschuss vorsichtig sein.

Ein wichtigerer Akteur in Afghanistan ist der IS. Er hat in den letzten Monaten und Jahren verheerende Anschläge ausgeführt. Der IS und die Taliban bekämpfen sich. Das hat ideologische und politische Gründe, aber natürlich geht es im wesentlichen um Machtansprüche. Vor einem Jahr gab es in der Provinz Kunar Luftangriffe der Amerikaner gegen den IS, während die Taliban am Boden gegen ihn vorgingen. Da nannten einige Beobachter die Taliban schon die „neuen Bodentruppen der Amerikaner“. So wie die Biden-Administration derzeit agiert, scheint der „War on Terror“ vorbei zu sein; man will sich mehr auf China und Russland fokussieren. Sollte der IS in Afghanistan aber zu einer ernstzunehmenden Bedrohung für den Westen werden, kann ich mir gut vorstellen, dass man bei seiner Bekämpfung mit den Taliban zusammenarbeiten wird.

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Das Interview erschien zuerst im IPG-Journal.

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Anja Wehler-Schöck

leitet die Redaktion des IPG-Journals. Von 2017 bis 2021 war sie Sozialreferentin an der Deutschen Botschaft Washington. Zuvor leitete sie in Amman das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung für Jordanien und Irak.

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