Steigender Antisemitismus: Wie Corona-Proteste den Hass befeuern
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Der aufgestickte Davidstern, darin nur das Stichwort „ungeimpft“, Querdenker*innen, die sich mit Anne Frank vergleichen oder glauben, die Corona-Pandemie sei eine Weltverschwörung böser Eliten – all das sind aus Sicht von Expert*innen klare Anzeichen für Antisemitismus. Hass auf Juden, der in Deutschland in der Pandemie wieder zugenommen hat – darauf deuten nicht nur einzelne Anschläge, sondern auch Studien und Umfragen hin. „Der Antisemitismus war aber in Deutschland sowieso nie weg“, sagt die Generalsekretärin der deutsch-israelischen Gesellschaft, Michaela Engelmeier, gegenüber dem „vorwärts“.
RIAS, der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus, dokumentiert schon länger antisemitische Vorfälle in Deutschland. Für 2020 hat der Verband 1.909 solcher Vorfälle dokumentiert – ein Jahr zuvor waren es noch knapp 1.300. Zwar hat der Verband auch Bereiche in die Bundesstatistik aufgenommen, die 2019 noch nicht mitgezählt wurden. Die Zahl der Vorfälle ist aber auch so gestiegen. Einen Großteil macht „verletzendes Verhalten“ aus, zu dem auch antisemitische Beschimpfungen zählen. Die Studie wurde am Montag vorgestellt.
Corona-Proteste: Nährboden für Antisemitismus
Vor allem im Umfeld der Querdenker*innen verortet der Verein sie. Bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen sei es vermehrt zu antisemitischen Vorfällen gekommen. Zentral dabei: Durch die Vergleiche der Protestierenden mit den Opfern des Nationalsozialismus wurden immer wieder sowohl Shoa als auch Nationalsozialismus an sich verharmlost. „Die Coronapandemie wurde zudem zur Projektionsfläche für Verschwörungsmythen“, schreiben die Autor*innen der Studie, die auch vom Zentralrat der Juden, der Amadeu-Antonio-Stiftung sowie vom Familienministerium gefördert wird.
Deswegen ist Michaela Engelmeier auch so betrübt über den teils offenen Antisemitismus bei den Protesten der Querdenker*innen – im Grunde seien es nämlich die Kinder und Enkelkinder der Täter-Generation, die dort demonstrierten: „Das ist unfassbar.“ Auf klar antisemitische, volksverhetzende Äußerungen hat die Sozialdemokratin nur eine Antwort: „Das muss unbedingt bestraft werden.“
Doch es geht bei den gegenüber RIAS gemeldeten Vorfällen offenbar nicht nur um das Protest-Umfeld des vergangenen Jahres – auch der Alltag vieler jüdischer Menschen ist demnach von Antisemitismus geprägt. Betroffene würden sich scheuen zur Polizei zu gehen und solche Vorfälle zu melden, dokumentiert RIAS in der Studie mit Verweis auf zahlreiche Interviews. Auch um dieses Dunkelfeld aufzuhellen können Betroffene antisemitische Vorfälle direkt an den Verband melden.
Dass es diese Möglichkeit inzwischen gibt, darüber freut sich Engelmaeier. Denn einige Straftaten würden von den Ermittlungsbehörden gar nicht als antisemitisch kategorisiert und tauchten so gar nicht in der Kriminalitätsstatistik als solche auf. „Es ist gut, dass das endlich erfasst wird“, so die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete über die RIAS-Meldestelle. Dass antisemitische Straftaten zudem inzwischen gesondert bestraft werden können, dafür lobt sie auch die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD). „Dafür haben wir lange gekämpft.“ Dass sowohl die Justizministerin als auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sich jüngst auf Kundgebungen sehr deutlich gegen antiisraelische und antisemitische Demonstrationen geäußert hatten, darüber freut sich Engelmeier ebenfalls.
Doch es reicht ihr nicht, wenn sich Politiker*innen offen gegen Antisemitismus erklären und bei der nächsten schockierenden Tat wieder mehr Engagement fordern. „Das ist zwar gut, aber wir müssen von diesen Lippenbekenntnissen wegkommen“, so Engelmeier. Wichtig seien konkrete Taten und Handlungen, bis hin zu härteren Urteilen bei antisemitischen Straftaten. „Ganz egal, wo dieser Antisemitismus herkommt“, so Engelmeier, müsse jedem Vorfall, jeder Meldung auch wirklich nachgegangen werden. Dazu schreibt auch RIAS, dass viele Vorfälle, die der Verband als antisemitisch einstuft, de facto nach deutscher Rechtsprechung nicht strafbar sind.
Wenn „Jude“ wieder zum Schimpfwort wird
Aber wenn schon auf den Schulhöfen „Jude“ als Schimpfwort wieder geläufig sei, müsse das viel stärker thematisiert werden. Dann müsse mehr in Bildungsprojekte investiert werden, so Engelmeier weiter – wie es beispielsweise über das Förderprojekt „Demokratie leben!“ des Bundesfamilienministeriums bereits möglich sei. „Da muss richtig Geld in die Hand genommen werden“, fordert die Sozialdemokratin aus Nordrhein-Westfalen, die wieder für ein Bundestagsmandat kandidiert. „Wir müssen auch in den Schulen über Antisemitismus reden.“ Ihr Wunsch: Jüdisches Leben in Deutschland einerseits sichtbarer machen, Gefahren für die Mitmenschen thematisieren: „Wir müssen uns schützend vor unsere jüdischen Mitbürger*innen stellen.“ Es könne nicht sein, dass in Deutschland lebende jüdische Menschen wieder darüber nachdenken, ihre Koffer zu packen und nach Israel auszuwandern – aus Angst vor Übergriffen.
Die Dokumentation von RIAS ist dabei nicht die einzige Studie, die in der jüngsten Vergangenheit Anzeichen eines zunehmenden Antisemitismus dokumentierte. Erst vorige Woche war die neue Mitte-Studie veröffentlicht worden, in der alle zwei Jahre politische Aussagen zu Rassismus und Extremismus untersucht werden. Auch dort stellten die Autor*innen fest: Klar antisemitischen Aussagen wird zwar weiterhin selten offen zugestimmt. Allerdings hat die Zahl derjenigen zugenommen, die solche Aussagen nicht mehr klar ablehnen.