„Städte Sicherer Häfen“: Warum Marburg mehr Geflüchtete aufnehmen will
„Die Frau festzunehmen ist ein Räuberstück“, sagt der Marburger SPD-Oberbürgermeister Thomas Spies zur Inhaftierung der Seawatch-Kapitänin Carola Rackete. Das sei eine „völlige Verdrehung der humanistischen Werte der europäischen Welt, dass man dafür verhaftet wird, Menschen aus Seenot zu retten“. Marburg ist eine von zwölf Städten im Bündnis „Städte Sicherer Häfen“, das sich Mitte Juni gegründet und in einem offenen Brief an Innenminister Horst Seehofer gewandt hat. Sie sind bereit, über den eigentlichen Verteilungsschlüssel hinaus weitere Geflüchtete aufzunehmen. Anlass zur Gründung des Bündnisses war, dass das zivile Seenotrettungsschiff Sea-Watch 3 im Mittelmeer 53 Personen vor dem Ertrinken rettete und anschließend keinen sicheren Hafen fand.
Marburg: eine Stadt der Solidarität
In der vergangenen Woche hat Seawatch-Kapitänin Carola Rackete trotz Verbots italienische Hoheitsgewässer angesteuert. Die Geretteten konnten von Bord gehen. Die 31-jährige Aktivistin wurde festgenommen. Thomas Spies sagt dazu: „Seit Jahrtausenden ist klar, dass man Menschen nicht einfach ertrinken lässt. Aus billigem Populismus jetzt zu versuchen, jemandem daraus einen Strick zu drehen, zeigt das wahre Gesicht von populistischen Rechtsextremisten in Europa.“ Die Festnahme kritisiert auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh.
Der Marburger Oberbürgermeister Thomas Spies wäre bereit, einige der Geflüchteten in Marburg aufzunehmen. Auf die Frage, ob es deswegen bereits Gespräche gegeben habe, sagt Spies: „Nein, weil Herr Seehofer mir nicht antwortet. Das finde ich persönlich keinen besonders freundlichen Stil, aber wir haben weder auf einen ersten Brief im Dezember noch jetzt eine Antwort bekommen.“
Im Gegensatz zu Millionenstädten wie Berlin, Hamburg oder München wirkt das mittelhessische Marburg mit seinen etwa 75.000 Einwohnern eher beschaulich. Trotzdem zeigt sich die Universitätsstadt offen für die Aufnahme weiterer Geflüchteter. Spies spricht von einer klaren Haltung, die in der Bevölkerung verankert sei: „Wir schaffen es noch sehr gut, das Tabu gegenüber fremdenfeindlichen Äußerungen aufrechtzuerhalten.“ Schon in der Vergangenheit war die Solidarität in Marburg groß. Im Jahr 2015 meldeten sich spontan mehrere hundert freiwillige Helfer zur Unterstützung von Geflüchteten. Nach den Vorfällen in Chemnitz rief der Magistrat der Stadt Marburg im September 2018 zu einer Demonstration auf. Trotz Semesterferien gingen 7.500 Menschen gegen Hass und Ausgrenzung auf die Straße.
Spies fordert europäischen Fonds
Noch heute gibt es in der Stadt einen Pool von 1.500 Ehrenamtlichen. „Wir kriegen das organisiert, wenn Leute kommen. Wir haben die breite Unterstützung in der Stadtgesellschaft“, sagt Spies. Um die Aufnahme weiterer Geflüchteter zu finanzieren, fordert der Marburger Oberbürgermeister einen bundesweiten oder europäischen Pool. Viel Anklang findet bei ihm der Vorschlag von Gesine Schwan für einen europäischen Fonds, bei dem diejenigen Kommunen, die bereit sind, weitere Geflüchtete aufzunehmen, finanzielle Anreize für Investitionen geboten bekommen. „Ich finde das ein sehr kluges Konzept“, sagt Spies.
Zwar könne Marburg nicht auf einen Schlag 2.000 weitere Menschen beherbegen. Dafür sei die Stadt zu klein. Doch Marburg sei bereit, zusätzlich zum eigentlichen Kontingent aus Seenot gerettete Menschen aufzunehmen. „Wenn es irgendwann zu viel werden sollte, würden wir uns schon melden, aber ich bin da völlig unbesorgt“, sagt der Oberbürgermeister. Er findet es grotesk, dass sich „600 Millionen Europäer derartig anstellen“. Wie man mit Geflüchteten umgehe, sei eine Haltungsfrage. „Da muss man überall gegenüber Rechtspopulisten sehr klare Worte finden.“ Gleichzeitig dürfe die Aufnahme Geflüchteter keine Frage von finanziellen Spielräumen sein. Stattdessen brauche es einen europäischen Fonds, um Kommunen „eigene Entscheidungsspielräume“ zu gewähren.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo