Seenotrettung

SPD-Politiker Helge Lindh: „Carola Rackete ist keine Rechtsbrecherin“

Benedikt Dittrich02. Juli 2019
SPD-Bundestagsabgeordneter Helge Lindh
Nachdem am Wochenende die Kapitänin der „Sea Watch 3“ auf Lampedusa verhaftet wurde, appelliert der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh an die italienische Justiz. Für ihn ist Carola Rackete keine Kriminelle.

Helge Lindh, Sie haben am Wochenende gesagt, dass Sie sich schämen, ein Europäer zu sein. Warum?

Wegen der kollektiven Unfähigkeit der europäischen Staaten, eine gemeinsame Lösung für die Seenotrettung zu finden. Wir machen es uns zu einfach, nur auf Italien zu gucken. Dieses Europa zeigt sich da quasi gar nicht handlungsfähig. Wir hangeln uns von Fall zu Fall, das ist ein Tiefpunkt der europäischen Zusammenarbeit.

Sie zielen damit auf das Problem, dass es keine allgemeingültige Regelung zur Verteilung von geretteten Asylbewerbern innerhalb Europas gibt.

Das ist einer der zentralen Punkte für Länder wie Malta und Italien. Die Frage ist, ob man einen Verteilungsschlüssel mit einer verlässlichen Gruppe von Ländern findet. Alle wird man da sicherlich nicht einbinden können, das ist illusorisch. Zweitens hat Europa keine gemeinsame Seenotrettung mehr. „Mare Nostrum“ gibt es nicht mehr, „Sophia“ auch nicht.

Inwiefern hängt das mit der Verhaftung von Carola Rackete, der Kapitänin der „Sea Watch 3“, zusammen?

Europa hat die Zuständigkeit der Seenotrettung an private Organisationen und Initiativen delegiert. Wenn die aber wiederum behindert und kriminalisiert werden, wenn sie diese Aufgabe übernehmen, dann ist das an Absurdität nicht mehr zu übertreffen.

Die „Sea Watch 3“ wurde in der Vergangenheit schon einmal festgesetzt. War es nicht absehbar, dass so etwas wieder passiert?

Es gibt keine konstante Lösung für die Verteilung der geretteten Menschen, die die betroffenen Länder an Europas Küsten entlasten. Gleichzeitig wurde die libysche Küstenwache in das Konzept eingebaut, obwohl die katastrophalen Zustände in Libyen bekannt sind. Dadurch reproduziert man dieses Problem natürlich immer wieder, denn die Menschen wollen nicht in Libyen bleiben.

Eine gerechte Verteilung der aus dem Mittelmeer geretteten Menschen würde also Ländern wie Malta und Italien helfen?

Es würde Malta bestimmt helfen. In Italien wurde die Situation obendrein instrumentalisiert, um gegen Flüchtlinge Stimmung zu machen. In der Tat kann der rechtspopulistische Innenminister damit argumentieren, dass Italien viele Jahre im Stich gelassen wurde. Es ist Salvini, aber es ist eben auch ein strukturelles Problem in Europa.

SPD-Bundestagsabgeordneter Helge Lindh

Zahlreiche Kommunen in Deutschland unterstützen die „Seebrücke“ und erklären ihre Städte zu sicheren Häfen, wollen also zusätzlich Menschen aufnehmen. Eine Initiative, die auf EU-Ebene hilft?

Es ist auf jeden Fall hilfreich! So wird erstmal signalisiert: Wir haben genug Aufnahmekapazitäten. Wenn diesem Beispiel mehr Städte in ganz Europa folgen, zieht das Argument nicht mehr, dass niemand diese Menschen haben will. Allein ist es aber kein Durchbruch, solange weiterhin die Seenotrettung auf dem Meer unterbunden wird.

Was muss also noch passieren?

Der Plan von Gesine Schwan könnte eine Idee sein. Wenn Kommunen nicht nur finanziell entlohnt werden, wenn sie Menschen aufnehmen, sondern obendrein noch Geld für Infrastrukturprojekte bekommen. Diejenigen, die offen für die Aufnahme sind, werden dann dafür belohnt. Dann könnte man, entgegen der Abwehr á la Salvini, über die Seenotrettung hinaus zu neuen Wegen der europäischen Asylpolitik finden. Das braucht aber die Nationalstaaten und einen entsprechend ausgestatteten Etat.

Den Seenotrettern und anderen Schiffskapitänen auf dem Meer hilft das aber erstmal nicht weiter.

Trotzdem ist es wichtig, weiter an die europäischen Staaten zu appellieren und den Druck auf Länder wie Italien und vor allem auf Salvini zu erhöhen. Vielleicht können von anderer Seite auch Seeleute und Reedereien mitreden. Die, die beruflich auf dem Meer unterwegs sind, wollen sich zwar oft nicht in die Politik einmischen, die Seenotrettung ist für diese Menschen aber ein Grundethos. Insofern ist die gegenwärtige, unklare Situation sicherlich unerträglich.

Wie geht es aus Ihrer Sicht für die Kapitänin der „Sea Watch 3“ weiter?

Auch wenn der italienische Innenminister aktuell Stimmung gegen die Kapitänin macht, hoffe ich auf die Unabhängigkeit, Rationalität und Humanität der italienischen Justiz. Ich halte Carola Rackete nicht für eine Komplizin von Schleusern oder eine Rechtsbrecherin. Sie hatte seit Wochen Menschen in einem schlechten gesundheitlichen Zustand an Bord und konnte das als Kapitänin nicht mehr verantworten. Auch das ist Seerecht und maritime Tradition. Wer Menschen aus der Gefangenschaft des Mittelmeers befreit, darf nicht selbst als Salvinis Gefangene enden. Für mich überwiegt das Gebot der Humanität.

 

 

Weitere Artikel zur Festnahme von Carola Rackete, Kapitänin der „Sea Watch 3“:

Völkerrechts-Professorin Nele Matz-Lück sieht Konstruktionsfehler im Seerecht

Sichere Häfen in Deutschland: Marburg würde mehr Geflüchtete aufnehmen

weiterführender Artikel

Kommentare

Die Odysse rund um Lampedusa

Die Odysse rund um Lampedusa lief doch mehr als 14 Tage. Was die dt. Regierung in dieser Zeit anbetrifft, so war diese auf Tauchstation. Jetzt wo Frau Rackete inhaftiert und das Schiff beschlagnahmt wurde, zeigen viele mit dem Finger auf Italien. Ein Armutszeugnis.
Die Sea Watchs + Besatzung war doch von vornherein bekannt, dass Italien eine Anladung verweigern würde. Warum wurde kein anderer Hafen angelaufen. Selbst DE wäre in der Zeit bequem erreichbar gewesen. Es tut sich der Verdacht auf, dass Italien bewusst an den Pranger gestellt werden soll.
Ja, Frau Rackete ist ohne Genehmigung und zwingenden Grund in italienische Hohheitsgewässer und später in den Hafen von Lampedusa eingelaufen und hat bei dem Anlegemannöver auch noch ein italienisches Küstenschutzboot gerammt. In jedem Land/Hafen auf diesem Planeten muss derjenige bzw. diejenige für diese Vorgehensweise mit einer empfindlichen Strafe und Patententzug rechnen.
Wie Frontex mit Video belegt, werden die Migraten neuerdings mit größeren Schiffen weit aufs offene Meer geschleppt, dort in kl. Boote umgeladen und dann wird "gerettet". Sieht nach Berufs-Schlepperei aus. Was gedenkt die dr. Regierung dagegen zu unternehmen?

Gerichte machen den Job !!!

Wenn Politik nicht handelt, dann müssen wie so oft, die Gerichte deren Job machen. Das war schon beim immer noch nicht aufgeklärten Abgasbetrug (Folge Fahrverbote) so, in den außer der überführten deutschen Autoindustrie (Ist MP Weil eigentlich noch Aufsichtsrat bei VW ?) auch Teile der amtierenden Poltikvertreter selbst dick verstrickt sind (s. Kraftfahrtbundesamt) und das ist auch hier so, wo die komplette EU versagt und Abertausende im Mittelmeers sterben. Angeheizt wird das für die Demokratie unschöne Klima von rechten Angstmachern die all diejenigen bedienen die sich, frei nach Alt-BP Joachim Gauck, vor dem Neuen und Ungewohnten fürchten ! Gut, konsequent und einzig richtig, dass die Kapitänin frei kommt und zusammen mit mutigen Richter/inne unsere Werte und die Menschenrechte verteidigt !!!

Die Odyssee rund um Lampedusa

Ja, leider hat sich die deutsche Regierung auch hier wieder ein Armutszeugnis ausgestellt, wenn sie wochenlang dem Treiben des Schiffes auf dem Meer tatenlos zugeschaut hat. Normalerweise handelt es sich hierbei um einen Straftatbestand.

Wenn argumentiert wird, Frau Rackete habe Verbote missachtet, indem sie ohne Genehmigung angelegt hat, muss doch die Frage erlaubt sein, wie derartige Verbote zu bewerten sind, wenn sie ausschließlich zu dem Zweck von einem faschistischen Minister Salvini erlassen werden, damit Menschenleben zerstört werden.

Das Grundgesetz gilt zwar nicht in Italien, aber der Grundsatz nach Art. 20 Abs. 4, wonach alle Deutschen das Recht zum Widerstand haben, gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung (also die verfassungsmäßige Ordnung, die die Menschenwürde beinhaltet) zu beseitigen, wenn eine andere Abhilfe nicht möglich ist. Diese Ordnung der Achtung der Menschenwürde, die auch in der EU-Charta verankert ist, hat die italienische Regierung mit ihrem Verbot beseitigt, eine Abhilfe war offensichtlich nicht möglich. Folglich war das Vorgehen von Carola Rackete auf keinen Fall rechtswidrig, sondern zur Rettung der Menschenleben geboten!!!