Debattenkonvent in Berlin

SPD-Beschluss: Vier Missionen für ein sozialdemokratisches Jahrzehnt

Jonas Jordan06. November 2022
Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil wirbt auf dem SPD-Debattenkonvent für den Leitantrag.
Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil wirbt auf dem SPD-Debattenkonvent für den Leitantrag.
Die SPD hat auf ihrem Debattenkonvent in Berlin einstimmig ihren Leitantrag verabschiedet. Er sieht vier zentrale Missionen für ein sozialdemokratisches Jahrzehnt vor, die auch aus den inhaltlichen Debatten des Wochenendes entstanden sind.

„Unser Anspruch ist es, dass das sozialdemokratische Jahrzehnt nicht nur eines ist, in dem wir Wahlen gewinnen, sondern auch eines, in dem wir sozialdemokratische Politik für die Bürgerinnen und Bürger machen“, macht der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil auf dem Debattenkonvent seiner Partei am Sonntag in Berlin deutlich. Schon am Tag zuvor hatten 1.000 Sozialdemokrat*innen vor Ort in Neukölln und mehr als 1.500 weitere Menschen im Livestream über zahlreiche Themen diskutiert. Daraus resultierte über Nacht laut Generalsekretär Kevin Kühnert eine „erkleckliche Zahl an Änderungsanträgen“.

Der circa 15 Seiten lange Leitantrag enthält vier zentrale Missionen, die den von Klingbeil formulierten Anspruch untermauern sollen: Gerechte Klimaneutralität, demokratische Digitalisierung, demografischer Wandel und Fachkräftesicherung sowie internationale Ordnung gestalten. Der Antrag soll jedoch laut Klingbeil nur der Beginn einer Debatte sein, die in einen Antrag zum nächsten Bundesparteitag Ende des kommenden Jahres münden soll. „Ich freue mich darauf und mit euch zu zeigen, dass wir die aktivste Mitgliederpartei Deutschlands sind“, sagt Klingbeil.

Mission 1: Gerechte Klimaneutralität

Die verteilungspolitische Frage gehöre in den Mittelpunkt der transformationspolitischen Debatte. „Wenn wir in Deutschland erfolgreich sein wollen, wenn wir wirtschaftspolitisch stark sein wollen, wenn wir dafür sorgen wollen, dass dieses Land auch in 15, 20 Jahren industrie- und wirtschaftspolitisch gut da stehen wird, müssen wir jetzt zulegen beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Das ist die Zukunft. Da müssen wir auch den Kampf führen gegen diejenigen, die jetzt blockieren und energiepolitisch zurück in die Steinzeit wollen“, fordert Klingbeil.

Daran schließt sich auch die stellvertretende SPD-Vorsitzende und Ministerpräsidentin des Saarlandes, Anke Rehlinger, an: „Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist der zentrale Schlüssel. Nichts wird funktionieren, wenn wir das nicht hinkriegen.“ Es gelte, Arbeitsplätze zu erhalten, neue zu schaffen und die ökologischen Ressourcen zu schützen, denn das sei die sozialdemokratische Übersetzung von Strukturwandel. „Dafür werden wir Milliarden ausgeben müssen. Denn wenn wir das nicht tun, werden wir auch Milliarden ausgeben müssen, aber für Arbeitslosigkeit. Das wollen wir nicht“, sagt Rehlinger.

Mission 2: Demokratische Digitalisierung

Schon in der Debatte mit dem Digitalexperten Sascha Lobo und der DGB-Vorsitzenden Yasmin Fahimi am Samtag hatte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken dafür plädiert, den Menschen in den Mittelpunkt der Digitalisierung zu rücken. „Wir wollen, dass alle Menschen einen Mehrgewinn aus digitalen Technologien bezieht und nicht nur einige wenige, globale, monopolistische Konzerne“, wiederholt sie ihre Forderung am Sonntag. Die Dividende der Digitalisierung müsse bei den Menschen ankommen.

Das macht die SPD auch in ihrem Leitantrag deutlich, in dem es unter anderem heißt: „Technologie ist kein Selbstzweck. Sie muss das Leben der Menschen besser machen – das ist unser Anspruch an die Digitalisierung.“ Der stellvertretende SPD-Vorsitzende und Arbeitsminister Hubertus Heil macht deutlich: „Ich bin bei diesem Leitantrag sehr froh, dass die SPD auch in Zeiten des digitalen Wandels die Partei der Arbeit bleibt.“ Er warnt zudem: „Wer Digitalisierung mit Ausbeutung verwechselt und Arbeitnehmerrechte aushöhlt, der hat in der Sozialdemokratie einen Gegner.“

Im Kapitel zur demokratischen Digitalisierung fordert die Partei außerdem öffentlich-rechtlich organisierte soziale Plattformen zu schaffen, auch als Gegengewicht zu Hass und Hetze bei Facebook, Twitter oder Telegram.

Mission 3: Demografischer Wandel und Fachkräftesicherung

Es gebe kaum einen Bereich, der nicht massiv vom Fachkräftemangel betroffen sei, sagt Saskia Esken. „Manche sprechen schon von der Achillesferse wirtschaftlicher Entwicklung.“ Arbeitsminister Hubertus Heil weist darauf hin, dass das Durchschnittsalter in Deutschland bei 48 Jahren liege. Ab 2025, wenn die Babyboomer-Jahrgänge in Rente gehen, drohe sich der Fachkräftemangel weiter zu verschärfen. Auch deshalb brauche es eine größere Fachkräfteeinwanderung. Doch Heil macht auch deutlich: „Wer glaubt, Einwanderung zur Lohndrückerei nutzen zu können, hat sich in uns getäuscht.“

Mission 4: Internationale Ordnung gestalten

Angesichts des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, der seit Ende Februar läuft, positioniert sich auch die SPD in außenpolitischen Fragen klar. „Es ist richtig, was die Bundesregierung unter Olaf Scholz tut“, sagt Lars Klingbeil mit Blick auf die Soliarität mit der Ukraine, auch in Bezug auf Waffenlieferungen. Zugleich weist er Kritik an Scholz bezüglich seiner Gespräche mit den Machthabern in China und Russland zurück: „Was ist das für eine komische Diskussion, wenn sich ein Bundeskanzler rechtfertigen muss, dass er mit anderen Staats- und Regierungschefs spricht? Er ruft Putin doch nicht an, um ihm zu sagen, was er für ein toller Typ ist.“

Zugleich erneuert Klingbeil seine Aussage in Bezug auf die deutsche Führungsrolle: „Es gibt bei vielen anderen Ländern den Wunsch, dass Deutschland sich stärker einmischt. Deutschland muss eine Führungsrolle einnehmen, wenn es darum geht, selbstbewusst für unsere Werte zu stehen.“ Denn die SPD sei seit fast 160 Jahren die Partei, die den internationalen Anspruch hoch halte. „Und das muss mehr werden!“ Freudig äußert er sich über das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Brasilien: „Einer der schönsten Momente in den letzten Wochen war, als wir die Wahlergebnisse aus Brasilien gesehen haben und dass unser Genosse Lula gewonnen hat.“

Zugleich warnt er vor dem Erstarken der Rechtsextremen und macht deutlich: „Kein Fußbreit den Faschisten, das gilt national, aber vor allem international!“ Lauter Jubel brandet anschließend auf. Auch Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europaparlamentes und Europabeauftragte des SPD-Parteivorstands, mahnt: „Wofür wir kämpfen müssen, ist mehr denn je Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte innerhalb der Europäischen Union. Die Trumps und Bolsonaros, die Erdogans und Putins, die Kaczynskis und Orbans in der EU, es werden mehr.“

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Kommentare

„Missionen für ein sozialdemokratisches Jahrzehnt“

Ist es unfair, Sätze von Politikern, etwa vom „Strategen des Jahres“, ernst (also wörtlich) zu nehmen?

Was bedeutet es zu bekennen, „dass das sozialdemokratische Jahrzehnt nicht nur eines ist, in dem wir Wahlen gewinnen, sondern auch eines, in dem wir sozialdemokratische Politik für die Bürgerinnen und Bürger machen“? Muss diese Selbstverständlichkeit vielleicht deshalb betont werden, weil bisher „Wahlen gewinnen“ und „sozialdemokratische Politik“ nicht gleichbedeutend waren? Könnte es sein, dass „sozialdemokratische Politik“ und „für Bürgerinnen und Bürger machen“ nicht die beiden Seiten einer Medaille sind?

Oder liegt die Betonung auf dem „sozialdemokratischen Jahrzehnt“, das nach der „Zeitenwende ...(mit ihrer) grundlegenden Kurskorrektur der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik“ zu erwarten, in der Tat wohl mehr mit einer religiösen Mission gemein hat, denn mit einer ernsthaften Erwartung?

Internationale Ordnung gestalten

Ich vermisse Ausführungen über die Thematik:
Mützenich steht auf Informationsterrorliste der Ukrainischen Regierung.

Mützenich

Wir hören die Ansprüche auf Führung und andere großen Worte, aber die Causa Mützenich wird nicht erwähnt. Ist das jemand peinlich ?

Mützenich - zur Ergänzung

Mützenich - zur Ergänzung II

„Mission Gerechte Klimaneutralität“

Gibt es in diesem Abschnitt irgendeinen Satz, der operational ist? „Wenn Deutschland ... gut dastehen (will), müssen wir jetzt zulegen beim Ausbau der Erneuerbaren“. Ein schöner Satz – aber was bedeutet er?! Die SPD wollte auch den Wohnungsbau ankurbeln (400.000 Wohnungen jährlich). Hat sie 10.000 Wohnungen hinbekommen? (Und was soll der „Kampf gegen ... die Steinzeit“?) 100 Mrd. € für den „Strukturwandel“ ausgeben zu wollen, klingt gut – ist aber nur eine Absicht, zumal ohne erkennbare Projekte.

Sehr konkret hingegen sind der klimaschädliche Ausbau von Kohle- und die Weiterverwendung von Atomkraftwerken und der Aufbau einer teuren, langfristig angelegten Infrastruktur für LNG-Verbrennung. Das Herankarren von LNG pustet zwischen 20-30% der transportierten Gasmenge in die Luft. Das bedeutet einen entsprechenden zusätzlichen CO2 Ausstoß, denn wir müssen ja nach wie vor die benötigte Gasmenge in unser Netz einspeisen (minus Einsparungen). Und was ist mit dem russischen Gas, das wir bisher bezogen haben; wir es immer noch nutzlos aber klimaschädlich verbrannt?

Mit solchen Sätzen kann „das sozialdemokratische Jahrzehnt“ nicht basiert werden.

„Mission Demokratische Digitalisierung“

Wenn „Digitalexperte Sascha Lobo“, bekannter „Lumpen-Pazifist“, und „die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi“ die „demokratische Digitalisierung“ begleiten, kann ja nichts mehr schiefgehen, auch wenn der Satz, „wir wollen, dass alle Menschen einen Mehrgewinn aus digitalen Technologien beziehen und nicht nur einige wenige, globale, monopolistische Konzerne“, ein wenig „holzschnitzartig“ klingt.

Hoffentlich hat Hubertus Heil noch die Chance, daran mitzuwirken.

„Mission Internationale Ordnung gestalten“ -

vor allem „angesichts des russischen Angriffskrieges in der Ukraine“, durch den „die Welt eine andere geworden war“ (Bundespräsident). Natürlich weiß ich, was Steinmeier damit meinte. Dennoch ist der Satz falsch, falsch für die Menschen in Syrien, im Jemen, in Afghanistan, in der südlichen Sahara und in unzähligen anderen Gegenden der Welt, die täglich um ihr Leben kämpfen müssen, weil dort 20-30 Millionen Kinder, Frauen und Männer, vor allem Kinder, buchstäblich vom Hungertod bedroht werden. Auch (z. B.) die 1,4 Mrd. Inder*innen plagen immer noch die alten existenziellen Sorgen. Wir sind zurecht entsetzt über den russischen Angriffskrieg, vermutlich auch, weil es uns nicht gelungen ist, „Russland in gemeinsame europäische Sicherheitsstrukturen einzubinden“ (W. Zellner, Blätter ..., 4`22). Da wir aber unisono als Vorgeschichte des Krieges ausschließlich die „imperiale Besessenheit“ des russischen Präsidenten akzeptieren, bleibt uns nur die Perspektive der europäischen Ordnung gegen Russland. (Unsere Wortgewaltigen einschließlich Steinmeier und Klingbeil behaupten das vor jedem Mikrofon.)

„Mission Internationale Ordnung gestalten“_2

Aber dieser Feind reicht uns nicht: „Kein Fußbreit den Faschisten, das gilt national, aber vor allem international! Lauter Jubel brandet anschließend auf.“ (Sympathisch realistisch dagegen Frau Barley.)
Damit ist – der Text lässt das offen - sicher auch China gemeint. Eine internationale Ordnung gestalten zu wollen nach „unseren Werten“ und in „Gegnerschaft, wenn nicht gar Feindschaft“ (v. Lucke) zu Russland und China ist einfach nur katastrophaler Unsinn - politisch, ökonomisch und ökologisch. Selbst eine Weltordnung (lediglich) „ohne Russland und China“ kann nur mit deren stillschweigender Duldung funktionieren, ist also auch keine zuverlässige Zukunftsperspektive.

Den Ukraine-Krieg als „historische Auseinandersetzung zwischen Diktatur und Demokratie“ (v. Lucke, Blätter ..., 10´22) zu postulieren, Biden nennt das die „große Schlacht ...“ und meint damit aber vor allem China, verbrämt die geostrategischen Interessen im Hintergrund, ist jedoch bestens geeignet, den mit der „Zeitenwende“ eingeleiteten „allgemeinen Pseudorealismus der Militarisierung“ (H.-J. Urban, Blätter ..., 7´22) zu legitimieren.

Was ist an diesem „sozialdemokratische Jahrzehnt“ erstrebenswert?

Warum schreibt der Vorwärts nichts zur Causa Mützenich?

Es ist, wie viele Kommentatoren schon bemerkt haben, ein Skandal, dass Rolf von der Regierung und den Medien im Stich gelassen wird. Aber noch viel irregeleiteter ist, dass seine eigene Partei sich vor diesem Sachverhalt wegduckt. Sind integre Politiker wie Rolf Mützenich mit unbequemen Meinungen in der SPD überhaupt noch gefragt?