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SPD-Außenexperte Roth: „Osteuropa ist nicht der Vorhof von Putin“

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth (SPD), setzt im Ukraine-Konflikt auf ein „klares Signal“ an Moskau. Er sei froh über die Klarstellung von Bundeskanzler Olaf Scholz, dass Nord Stream 2 als Sanktionsoption auf dem Tisch liege.
von Lars Haferkamp · 20. Januar 2022
Konkrete Bedrohungskulisse: Russischer Militäraufmarsch am 19.01.2022 in der Nähe von Rostow am Don, das rund 100 Kilometer Luftlinie von der ukrainischen Grenze entfernt liegt.
Konkrete Bedrohungskulisse: Russischer Militäraufmarsch am 19.01.2022 in der Nähe von Rostow am Don, das rund 100 Kilometer Luftlinie von der ukrainischen Grenze entfernt liegt.

Michael Roth, für wie groß halten Sie gegenwärtig die Gefahr eines erneuten russischen Angriffs auf die Ukraine?

Russland hat rund 100.000 gefechtsbereite Soldaten an der ukrainischen Grenze stationiert. Das ist eine weitere militärische Eskalation, die sehr bedrohlich ist. Aber die Rückkehr Russlands an den Verhandlungstisch bedeutet eine Chance für eine Deeskalation der angespannten Lage. Zu lange wurde übereinander und nicht miteinander gesprochen. Jetzt müssen aber auch verbindliche Ergebnisse folgen, der Abzug der russischen Truppen wäre ein erster wichtiger Schritt.

Russland weist jede Kritik an seinem massiven Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine zurück, es könne sein Militär im eigenen Gebiet nach Belieben stationieren. Zugleich verlangt Moskau aber einen Abzug der sehr kleinen Zahl von Soldaten der NATO aus ihren osteuropäischen Gebieten. Wie passt das zusammen?

Die Verantwortung für die aktuelle militärische Zuspitzung liegt alleine in Moskau. Putin versucht, die Welt in das 20. Jahrhundert zurück zu katapultieren und wieder eine bipolare Weltordnung aufzubauen. Wir dürfen uns nicht in das russische Spiel und die Rhetorik der Vergangenheit einlassen. Das östliche Europa ist doch nicht der Vorhof der Macht von Putin.

Nach der russischen Invasion 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine wäre ein erneuter Angriff die dritte schwerwiegende Verletzung der europäischen Friedenordnung durch Moskau. Welche Folgen hätte das?

Der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine reiht sich ein in eine lange Serie völlig inakzeptabler Entwicklungen, die mit unseren Vorstellungen von friedlicher Koexistenz nicht zu vereinbaren sind. Unsere Partner in Mittel- und Osteuropa müssen sich darauf verlassen können, dass wir an ihrer Seite stehen. Deswegen ist es gut, dass die Staats- und Regierungschefs der EU unmissverständlich klar gemacht haben, dass Russland im Falle einer weiteren Eskalation schwerwiegende politische und wirtschaftliche Konsequenzen drohen.

Hat sich Russland in den letzten Jahren als vertrauenswürdiger Partner oder als wachsende Bedrohung für Europas Sicherheit erwiesen?

Russlands Tabubruch, europäische Grenzen gewaltsam zu verändern, hat unser Vertrauen tief erschüttert. Deshalb gehören unsere beiden Prinzipien Dialogbereitschaft und Wehrhaftigkeit zusammen. Wir bieten Russland einen offenen, ehrlichen Dialog auf Augenhöhe an. Wir schlagen keine Türen zu, aber zum Tango gehören immer zwei. Ungeachtet der fundamentalen Meinungsverschiedenheiten haben wir langfristig ein Interesse daran, dass Russland ein strategischer Partner wird. Denn wir werden keines der aktuellen internationalen Probleme lösen, wenn wir mit Russland nicht im Gespräch bleiben und nach gemeinsamen Lösungen suchen.

Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht plädiert für „eine wirksame Abschreckung“ gegenüber Russland. Die Abschreckung gegenüber Putin funktioniert im Fall Georgiens und der Ukraine offensichtlich nicht mehr. Was sollte getan werden, damit sie wieder funktioniert?

Wir müssen ein klares Signal nach Moskau senden, dass wir die Provokationen und Völkerrechtsbrüche nicht achselzuckend hinnehmen. Wenn man dabei eine militärische Antwort aus guten Gründen ausschließt, dann müssen selbstverständlich alle anderen Optionen auf den Tisch. Die EU hat ja durchaus Möglichkeiten, mehr Druck auszuüben, wenn sie geschlossen auftritt und mit einer Stimme spricht. Europa ist der wichtigste Handelspartner für Russland. Wenn wir unsere Instrumente klug nutzen, können wir wirklich etwas bewegen. Das größte Geschenk, das wir dem russischen Präsidenten machen könnten, wäre europäische Uneinigkeit.

Wenn die Ukraine immer wieder von Russland – auf vielfältige Weise – attackiert wird und ihr Recht auf Selbstverteidigung auch von Deutschland anerkannt wird: Warum liefert Berlin dem attackierten Land keine Verteidigungsmittel, worum Kiew seit Jahren bittet?

Ich anerkenne das Recht der Ukraine, sich angemessen verteidigen zu können. Die russische Bedrohung ist konkret, nicht nur abstrakt. Bei Waffenlieferungen gibt es in Deutschland aber traditionell eine große Zurückhaltung. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, keine Waffen in Krisenregionen zu liefern. Dieses Prinzip gilt. Aber die eigentliche Gefahr geht aus russischer Sicht doch nicht von Waffen aus, sondern von der großen Anziehungskraft unserer westlichen Werte in den Ländern Osteuropas. Viele Menschen im Osten Europas streben nach Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für sie ist Europa ein Sehnsuchtsort. Davor fürchtet sich Wladimir Putin viel mehr als vor Waffen.

Aus der SPD gibt es den Wunsch nach einer neuen Ostpolitik. In allen Ostverträgen fixierte Willy Brandt zweierlei: erstens den Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt, zweitens die Anerkennung der Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa. Genau diese Prinzipien akzeptiert Putin aber nicht mehr.

Die SPD ist zu Recht stolz auf die Ostpolitik von Willy Brandt. Aber die Zeiten haben sich seitdem grundlegend geändert. Damals lag der Schlüssel für alle Lösungen in Moskau. Heute sind die mittel- und osteuropäischen Staaten freie Staaten, die souverän ihre eigenen Wege gehen. Deshalb bleibt der Dialog mit Russland wichtig, aber die neue Ostpolitik muss stets europäisch eingebettet werden. Wir Deutschen müssen uns noch viel stärker in die Lage unserer östlichen Nachbarstaaten hineinversetzen. Polen und die baltischen Staaten fühlen sich von Russland konkret bedroht – das müssen wir immer mitdenken.

Die noch nicht aktive Ostseepipeline Nord Stream 2 sorgt immer wieder für Differenzen im westlichen Bündnis und in Europa. Ist Deutschland hier in der Gefahr, sich zu isolieren?

Nord Stream 2 stößt fast überall in Europa nach wie vor auf Kritik und Bedenken. Davor dürfen wir nicht einfach die Augen verschließen. Das Projekt muss endlich eingebettet werden in eine gesamteuropäische Strategie der Energieversorgung. Präsident Putin muss den Gastransit über die Ukraine auch über 2024 hinaus garantieren. Und sollte Russland die militärische Aggression gegen die Ukraine weiter eskalieren, dann dürfen wir nicht einfach zum Tagesgeschäft übergehen. Nord Stream 2 kann dann sicher nicht ans Netz gehen.

Wie bewerten Sie die Dissonanzen innerhalb der Regierungskoalition zu Nord Stream 2?

Wir müssen in der EU eine einheitliche Linie gegenüber Moskau vertreten, dazu hat auch die Bundesregierung ihren Beitrag zu leisten. Ich bin froh, dass Bundeskanzler Scholz in dieser Woche klargestellt hat, dass alle Optionen – einschließlich Nord Stream 2 – auf dem Tisch liegen, wenn es zu einer militärischen Intervention gegen die Ukraine kommt.

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