Warum die SPD 2023 mehr als einen Grund zum Feiern hat
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Für viele SPD-Mitglieder sind die Arbeitsgemeinschaften mindestens so wichtig wie die Ortsvereine. Jüngere kommen häufig zuerst mit den Jusos in engeren Kontakt. Bei den heute 60- oder 70-Jährigen liest man immer wieder, dass sie ihre Parteikarriere bei den Jungsozialisten begonnen haben, Olaf Scholz ist gegenwärtig das bekannteste Beispiel dafür.
Gleich mehrere Arbeitsgemeinschaften feiern
Im kommenden Jahr feiern gleich mehrere Arbeitsgemeinschaften runde Jubiläen: Der Arbeitskreis ehemals verfolgter und inhaftierter Sozialdemokraten (AvS) schaut 2023 auf 75 Jahre Existenz zurück, die Arbeitsgemeinschaft der Selbständigen (AGS) auf 70 Jahre. Die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF) konstituierte sich 1973, ebenso die Arbeitsgemeinschaft für Arbeit (AfA, bis 2022: für Arbeitnehmerfragen), und auch die Juso-Hochschulgruppen starteten im selben Jahr.
Arbeitsgemeinschaften gab es also nicht schon seit der Geburtsstunde der SPD, der Gründung des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ 1863. Im Kaiserreich standen dieser Organisationsform rechtliche Hindernisse entgegen, und es war riskant bis unmöglich, sich als Lehrer oder Unternehmer offen zur Sozialdemokratie zu bekennen.
Die Revolution eröffnet neue Möglichkeiten
Die Revolution vom November 1918 und die Weimarer Reichsverfassung eröffneten neue Möglichkeiten. 1919 entstand die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer (heute: AG für Bildung), 1919/20 die Jungsozialisten. 1926 folgte die AG sozialdemokratischer Ärzte, deren Nachfolger heute die Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Gesundheitswesen ist. Für die Partei war die beginnende Ausdifferenzierung nicht ohne Probleme.
Neben den parteiinternen Arbeitsgemeinschaften entstand ab 1919 als „Vorfeldorganisation“ die Arbeiterwohlfahrt, der Arbeiter-Samariterbund wuchs weiter. Sie und noch mehr die Vereine des Arbeitersports lenkten personelle und auch finanzielle Ressourcen von der Parteiarbeit weg, manche Parteiführer malten schon damals das Gespenst der Entpolitisierung des Arbeitermilieus durch diese Partikularorganisationen an die Wand. Das große Ganze drohte aus dem Blick zu geraten, andererseits erschloss sich die SPD dadurch auch neue Zielgruppen.
Politisch-inhaltliche Differenzen mit der Gesamtpartei gab es nur punktuell: Die Jungsozialisten profilierten sich um 1930 als scharfe Kritiker der Parteilinie, woraufhin der SPD-Parteitag 1931 deren Organisation kurzerhand auflöste.
Differenzierung der Parteimitgliedschaft
Nach der Befreiung 1945 nahmen die Arbeitsgemeinschaften ihre Tätigkeit wieder auf, auch die Jusos entstanden neu. Die Ergänzung der Palette erfolgte nur langsam. Die Gründung der AvS 1948 war einerseits eine Reaktion auf die wachsende kommunistische Dominanz in der ursprünglich überparteilichen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, andererseits aber auch ein Mittel zur innerparteilichen Disziplinierung der ehemaligen Widerstandskämpfer und Verfolgten, deren Partikularinteressen dem Streben der Partei nach Wahlerfolgen auch bei ehemaligen „Mitläufern“ des NS-Regimes zuwiderliefen.
Dass 1973 gleich drei Neugründungen hinzukamen, ist nicht nur Zufall, sondern auch Ausdruck einer weiter voranschreitenden Differenzierung der Parteimitgliedschaft, die nun nicht mehr überwiegend aus Arbeiterinnen und Arbeitern bestand, sondern immer mehr Angestellte, Beamte und insbesondere Akademiker*innen anzog. Und auch die Frauen meldeten sich zu Wort. 1972 beschloss der Parteivorstand die Errichtung der AsF, im Jahr darauf trat der erste Kongress zusammen.
An den Universitäten bildeten sich in diesem Jahr die ersten Juso-Hochschulgruppen. Sie waren keine Gründung von oben und fanden erst in den Jahren danach zu einer losen bundesweiten Zusammenarbeit, weshalb sie damals auch keinen Vorstand, sondern einen Koordinierungsausschuss wählten. Was sie verband, war die Ablehnung des Sozialistischen Hochschulbunds (SHB), der sich immer mehr zum reinen Anhängsel der DKP-Studentenorganisation MSB Spartakus (Marxistischer Studentenbund) entwickelte und deshalb schon 1971 die Anerkennung durch die SPD verloren hatte.
Wehner verrechnet sich
Die Gründung der AfA 1973 hingegen war stark „von oben“ initiiert. Die SPD war nicht mehr allein eine Partei der Arbeiterinnen und Arbeiter, diese brauchten nun eine eigene Plattform. Und Herbert Wehner, im PV für die Parteiorganisation zuständig, erwartete, dass die AfA ein Gegengewicht gegen die weit links stehenden Jusos bilden werde. Das funktionierte aber nur einige Jahre, ab den 1980ern kamen auch von der AfA immer kritischere Töne.
Mitte der Neunzigerjahre machte das Schlagwort von der SPD als „lose verkoppelter Anarchie“ die Runde. Erfunden hatten es die Politikwissenschaftler Peter Lösche und Franz Walter, beide Sozialdemokraten. Sie hatten den Eindruck, die Partei zerfalle immer mehr in unabhängig voneinander agierende Gruppen. Dieser Befund hat sich auf Dauer nicht bestätigt. Die Arbeitsgemeinschaften und Arbeitskreise haben sich nicht als Zentrifugalkraft erwiesen, sondern als ein Mittel, auf die voranschreitende Pluralisierung der Gesellschaft zu reagieren, ohne das Gemeinsame aus dem Auge zu verlieren.