Geschichte

Was die Spanische Grippe von der Corona-Pandemie unterscheidet

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie werden Vergleiche mit der Spanischen Grippe angestellt. Diese „Mutter aller Pandemien“ tobte in drei Wellen zwischen 1918 und 1920 und ließ mindestens 50 Millionen Tote zurück. Ein Blick in den „Vorwärts“ von damals zeigt Parallelen – und Unterschiede.
von Stefan Müller · 29. April 2021
Amerikanisches Lazarett in Kansas während der Spanischen Grippe 1918: Eine einheitliche Pandemieerfahrung gab es 1918 nicht.
Amerikanisches Lazarett in Kansas während der Spanischen Grippe 1918: Eine einheitliche Pandemieerfahrung gab es 1918 nicht.

Die meisten Opfer forderte die Spanische Grippe in Asien, etwa die Hälfte. Der europäische und der nordamerikanische Kontinent waren deutlich weniger betroffen. Für das Deutsche Reich wird von 12 bis 15 Millionen Erkrankten (20 bis 25 Prozent der Bevölkerung) und 300.000 Toten (vor allem in der Zivilbevölkerung) im Jahr 1918 ausgegangen.

Die „Spanierin“ kommt

Die erste Welle traf Europa ab April 1918. Auch wenn der Ursprung des Virus noch Fragen aufwirft, wissen wir, dass sich die Influenza mit dem Eintreffen von US-Truppen in Frankreich an der Westfront verbreitete. Kriegsgefangene, Verwundete und Urlauber brachten die Grippe dann mit ins Deutsche Reich.

Den Namen verdankt die Spanische Grippe dem Krieg. Die europäische Presse griff Nachrichten aus Spanien auf, einem Land, das nicht am Krieg beteiligt war und wo die Berichterstattung nicht der Zensur unterlag. Der Vorwärts berichtete erstmalig am 30. Mai 1918 von einer rätselhaften Epidemie in Spanien. Bald war man sich darüber im Klaren, es mit einer alten Bekannten zu tun zu haben: der Influenza (einer vermeintlich Bekannten, denn Viren als Erreger wurden erst über zehn Jahre später identifiziert). Ab Ende Juni berichtete die deutsche Presse auch von der in der Heimat auftretenden Grippe, wobei die „Spanierin“ ihren Namen bereits weghatte.

Die erste, bis Ende Juli1918 dauernde Welle hinterließ zwar ihre Spuren – der Vorwärts meldete beispielsweise am 5. Juli 80.000 erkrankte Kinder in Berlin – aber es kam nur zu wenigen Todesfällen. Die Pandemie wurde kaum ernst genommen. Man war der Ansicht, dass Bettruhe und gesundes Essen (was allerdings zu dem Zeitpunkt im Krieg kaum noch erhältlich war) ausreichten.

„Der Tode geht um …“

Die zweite und tödliche Welle lief im Oktober und November durchs Deutsche Reich. Eine dritte Welle Anfang 1919 war in Deutschland so milde, dass sie kaum noch registriert wurde. Für Großbritannien wurde errechnet, dass der zweiten Welle 64 Prozent der Todesfälle zuzurechnen waren; für Deutschland dürften sich die Zahlen nicht groß unterscheiden. Die Stimmung war bedrückend. Die Influenza war so heftig, dass Menschen auf der Straße umfielen und innerhalb von 24 Stunden verstarben. In düsterem Ton fasste der sozialdemokratische Lübecker Volksbote diese Endzeitatmosphäre: „Der Tod geht um …“ Die blaue Verfärbung des Körpers aufgrund des Sauerstoffmangels ließ immer wieder die Furcht vor der Pest aufkommen.

Die Pandemie führte zu erheblichen Beeinträchtigungen der Infrastruktur: Telefon- und Telegrafenämter mussten schließen, der verbliebene private Bahnverkehr wurde reduziert und nicht zuletzt infizierten sich Menschen bei der Arbeit. Lassen sich die Krankenzahlen über die Mitteilungen der Krankenkassen gut nachvollziehen (der Vorwärts berichtete ausgiebig über die Lage in Berlin), wurde über Produktionseinschränkungen aufgrund der Zensur kaum berichtet.

Breit gestritten wurde dagegen über die Schließung von Kinos, Theater und der Schulen und die Auseinandersetzungen um die „Grippeferien“ erinnern sehr an die Gegenwart. Eine einheitliche Linie gab es im Reich nicht. Während Dresden Kultur und Schulen schloss, lief in Leipzig das Leben zunächst ungerührt weiter. Im Großherzogtum Baden wies die Regierung die Städte Konstanz und Mannheim an, Schulen und Theater wieder zu öffnen. Geradezu absurd wurde es in Berlin. Während in den umliegenden Städten Charlottenburg, Schöneberg, Neukölln usw. die Schulen schlossen (Groß-Berlin entstand erst 1920), ließ der Berliner Magistrat die Pandemie laufen. Die Berliner Sozialdemokratie protestierte heftig, war aber machtlos.

Corona: Die erste Pandemie mit Lockdown

Das Hauptmotiv, nicht mit massiven Beschränkungen auf die Pandemie zu reagieren, war, dass man die kriegsbedingt miserable Stimmung im Land nicht weiter drücken wollte. Hinzu kam, dass die Grippe neben dem Grauen an der Front und dem Hunger in der Heimat nur als ein weiteres Phänomen des Kriegs gedeutet wurde. Die tödlichen Verläufe wurden der kriegsgeschwächten Konstitution zugeschrieben.

Eine einheitliche Pandemieerfahrung, so wie heute, gab es 1918 nicht. Der sozialdemokratischen Presse kam dabei die Bedeutung zu, intensiv berichtet zu haben, während in den meisten bürgerlichen Zeitungen trotz der Fülle an Todesanzeigen die Pandemie kaum stattfand.

Viele Vergleiche zwischen der Gegenwart und der Jahrhundertpandemie von 1918 liegen nahe, aber eines ist doch anders: Corona ist die erste Pandemie, der überhaupt und dann noch auf globaler Ebene mit Lockdowns begegnet wird. Noch auf die großen Grippepandemien der Jahre 1956/57 (weltweit zwei Millionen Tote) und 1968/1970 (1,5 Millionen Tote) wurde nicht mit Kontaktbeschränkungen reagiert.

Die Lehren aus der Spanischen Grippe

Einen Wendepunkt brachten die 1990er-Jahre als man zum einen herausfand, dass die Spanische Grippe durch einen bei Vögeln vorkommenden Grippevirus ausgelöst wurde, und man zum anderen in Asien mit der Vogelgrippe konfrontiert war. Seitdem werden Vorbereitungen auf eine globale Seuche wie die von 1918 getroffen. Die Weltgesundheitsorganisation legte 1999 einen Pandemieplan vor; der erste deutsche Pandemieplan stammt von 2005.

Der historische Blick auf Corona lässt einen mit gemischten Gefühlen zurück. Einerseits sehen wir erstmals sogenannte nichtpharmazeutische Maßnahmen in großem Umfang, andererseits finden sich noch zu viele Parallelen zu 1918, und dies trotz einer seit 20 Jahren bestehenden Pandemieplanung.

node:vw-infobox

Autor*in
Stefan Müller

ist Historiker im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seine Schwerpunkte liegen in der Geschichte der Arbeitswelt und der Gewerkschaften.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare