Serpil Midyatli: Wir brauchen jedes Jahr ein Aufholpaket
imago images/Political-Moments
In Schleswig-Holstein sind gerade die Sommerferien zu Ende gegangen. Mit welchen Gefühlen haben Sie Ihre Kinder wieder in die Schule geschickt?
Meine Gefühle waren gemischt. Die Inzidenz steigt auch in Schleswig-Holstein wieder an, was sicher auch damit zu tun hat, dass viele die freie Zeit genutzt haben, um etwas weiter weg in den Urlaub zu fahren. Gewundert hat mich, dass Reiserückkehrer*innen erst jetzt einen negativen Corona-Test vorweisen müssen, obwohl sicher die wenigsten Schleswig-Holsteiner*innen erst am 1. August aus dem Urlaub zurückgekommen sind, wenn am 2. August die Schule wieder beginnt. Insgesamt bin ich aber froh, dass der Schulalltag jetzt wieder losgeht. Man sieht ja auch, dass es vielen nicht gutgetan hat, so lange voneinander getrennt zu sein und nur aus der Distanz unterrichtet zu werden.
Sind die Schulen in diesem Jahr besser auf den Unterricht unter Corona-Bedingungen vorbereitet als im letzten?
Das wird sich in den kommenden Tagen und Wochen zeigen. Ein großer Fortschritt ist aus meiner Sicht, dass an den Schulen in Schleswig-Holstein weiterhin regelmäßige Corona-Tests stattfinden. Wir brauchen einen optimalen Schutz der Schülerinnen und Schüler, aber auch der Beschäftigten. Das große Versäumnis ist, dass so wenige Klassenräume mit Luftfiltern ausgestattet wurden. Das wäre gerade für die Kinder bis zwölf Jahre, für die es ja noch keine Impfstoffe gibt, ein wichtiger Schutz. Das Bildungsministerium in Schleswig-Holstein hat ein Programm dafür zuerst abgelehnt und ihm nun schließlich zugestimmt – aber nur, wenn der Bund das dafür notwendige Geld gibt. Das halte ich für verantwortungslos. Andere Bundesländer haben deutlich mehr gemacht.
Viele Eltern befürchten bereits erneuten Wechselunterricht oder gar Schulschließungen spätestens zum Herbst. Können Sie ihnen ihre Ängste nehmen?
Schul- und Kita-Schließungen dürfen nur der allerletzte Weg sein, sollten sich das Corona-Virus wieder deutlich ausbreiten. Im Moment liefern sich die Zahl der Impfungen und die Ausbreitung der Delta-Variante ja ein Rennen. Das können wir nur gewinnen, wenn sich möglichst viele Menschen impfen lassen. Der Impfstoff dafür ist da. Insofern haben wir es zu einem großen Teil selbst in der Hand, wie es im Herbst weitergeht. Schulschließungen sehe ich höchstens regional auf uns zukommen. Trotzdem dürfen wir auch bei vergleichsweise niedrigen Zahlen nicht vergessen, dass wir nach wie vor in einer Pandemie sind. Beschränkungen, die zurzeit nicht gelten, können jederzeit zurückkehren. In anderen Ländern sehen wir ja gerade, wie schnell das gehen kann. Wir sollten uns nicht in einer falschen Sicherheit wiegen.
Die Gesundheitsministerkonferenz will, dass auch Kindern und Jugendlichen ab 12 Jahren ein Impfangebot gemacht wird. Kann das helfen, einen weitgehend normalen Unterricht zu ermöglichen?
Ja, ich denke, das ist ein ganz wichtiger Schritt. Deshalb finde ich es auch sinnvoll, dass Schülerinnen und Schüler künftig an vielen Orten auch in den Schulen geimpft werden können. Letztendlich müssen natürlich die Eltern entscheiden, ob sie ihre Kinder impfen lassen wollen oder nicht.
Welches Signal sollte von der Ministerpräsidentenkonferenz in der kommenden Woche ausgehen?
Ich fände einen einheitlichen Appell der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten für mehr impfen wichtig. Nach dem Beschluss der Gesundheitsministerinnen und -minister in der vergangenen Woche wäre es auch gut, wenn sich die MPK hinter das Impfen in Schulen stellen würde. Ansonsten würde ich mir wünschen, dass sie sich mit möglichen Impfungen für Kinder unter zwölf Jahren beschäftigen. Wichtig ist auch, Orientierung zu bieten. Lange haben wir stark auf Inzidenzen geschaut. Die Menschen konnten durch die Gefahr besser einschätzen und absehen, wann Verschärfungen oder Lockerungen kommen. Das hat zur Transparenz beigetragen. Aufgrund der hohen Impfquote sagen viele, dass wir neue Kriterien brauchen. Dazu erwarte ich Antworten der MPK, damit die Länder nicht alle ihre eigenen Regeln machen. Vor allem ist wichtig, dass die MPK mit einer Stimme spricht. Das war ja leider nicht immer der Fall und das führt zu Verwirrung.
Kinder und Jugendliche sind die Bevölkerungsgruppe, die sich während der Corona-Pandemie am meisten einschränken musste und zum Teil immer noch muss. Inzwischen ist schon von einer „Generation Corona“ die Rede. Wie kann verhindert werden, dass sie möglicherweise ein Leben lang Nachteile aus dieser Zeit mitnehmen?
Von einer „Generation Corona“ würde ich nicht sprechen, da es auf der einen Seite Schülerinnen und Schüler gibt, die das Versäumte recht leicht ausgleichen können, weil ihre Familien die Möglichkeiten dafür haben, etwa indem sie für Nachhilfe zahlen können. Auf der anderen Seite gibt es viele, die diesen Hintergrund eben nicht haben und besonders auf die Unterstützung von Lehrkräften angewiesen sind. Denen müssen wir helfen. In Mecklenburg-Vorpommern hat die Landesregierung deshalb Nachhilfe-Gutscheine verteilt. Das ist aus meiner Sicht ein sehr guter Ansatz. Über die akute Hilfe hinaus brauchen wir aber auch längerfristige Unterstützung wie wir sie mit dem zwei Milliarden schweren Aufholpaket angestoßen haben. Auch hier gilt: Corona wirft ein Schlaglicht auf Probleme, die es schon länger gibt. Deshalb ist mein Vorschlag, dass wir im nächsten Jahrzehnt jedes Jahr ein Aufholpaket machen. Den Bildungsaufstieg, wie ihn viele den 1970er und 1980er Jahren geschafft haben, gibt es heute kaum noch. Herkunft ist ganz oft Schicksal. Das ist nicht nur ungerecht, sondern schlecht für uns alle, weil viele Talente ihre Fähigkeiten nie voll entfalten können. Ich würde mir wünschen, dass wir darüber stärker im Bundestagswahlkampf diskutieren.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.