Parteileben

Was Seeheimer Kreis und Parlamentarische Linke unterscheidet – und was verbindet

Machtbewusst die einen, realitätsfern die anderen: Über Seeheimer Kreis und Parlamentarische Linke gibt es viele Vorurteile. Die beiden Sprecher Dirk Wiese und Matthias Miersch fanden es an der Zeit, damit mal aufzuräumen. Ein vorwärts-Gespräch
von Kai Doering · 10. September 2019
Uns vereint viel, viel mehr als uns trennt: Dirk Wiese (l.), Sprecher des Seeheimer Kreises, und Matthias Miersch, Sprecher der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion
Uns vereint viel, viel mehr als uns trennt: Dirk Wiese (l.), Sprecher des Seeheimer Kreises, und Matthias Miersch, Sprecher der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion

In der SPD gibt es den Vergleich, die Partei sei wie ein Vogel mit einem linken und einem rechten Flügel: Um fliegen zu können, brauche sie beide. Stimmt das Bild aus Ihrer Sicht?

Matthias Miersch: Ich finde, das Bild passt. Die SPD hat zu Recht den Anspruch, Volkspartei zu sein, und da gibt es eben die unterschiedlichen Richtungen. Deswegen gefällt mir das Bild mit dem Vogel – wenngleich ich glaube, dass es Fragen gibt, bei denen die Einordnung in die Kategorien links und rechts auch nicht immer ganz zutreffend ist.

Dirk Wiese: Zwei Flügel zu haben, hilft nicht nur dem Vogel, sondern auch der SPD. Wenn jeder aber nur seinen Flügel und seine Stärke im Blick hat, lahmt der Vogel SPD insgesamt. Deshalb ist es wichtig, dass wir in der Partei diskutieren und auch unterschiedliche Perspektiven in die Debatte einbringen. Seeheimer und Parlamentarische Linke arbeiten gut zusammen. Und auch wenn das manch einer nicht glauben wird: Uns vereint viel, viel mehr als uns trennt.

Sie sind beide Juristen, beide etwa mit 20 in die SPD eingetreten, gehören aber unterschiedlichen Flügeln an – Matthias Miersch der Parlamenta­rischen Linken, Dirk Wiese den Seeheimern. Wie hat sich das bei Ihnen ergeben?

Dirk Wiese: Ich bin über die Briloner Kommunalpolitik zur SPD gekommen. Als ich dann in den Bundestag gewählt wurde, war es so, dass viele ältere Kolleginnen und Kollegen bei mir aus dem Sauerland und der Region schon Mitglied des Seeheimer Kreises gewesen sind – Dagmar Freitag oder Wolfgang Hellmich etwa. Sie haben mich ein paar Mal mitgenommen und dann habe ich mich entschieden, selbst Seeheimer zu werden. Weil es ja manchmal sehr komische Vorstellungen gibt, Seeheimer und PL würden sich wie zwei Blöcke in der Fraktion gegenüberstehen, will ich aber auch sagen: Man schätzt die ­Genossen flügelübergreifend. Es gibt überall Vernünftige, mit denen man gut und gerne zusammenarbeitet.

Matthias Miersch: Bei mir ist das anders gelaufen. Ich bin auch kommunalpolitisch sozialisiert, war aber schon immer jemand, der einen sozial-ökologischen Ansatz verfolgt. Deswegen habe ich den Blick über den politischen Alltag immer nur in der Parlamentarischen Linken abgebildet gesehen. Daran änderte auch nichts, dass mein Vorgänger ein Seeheimer war.

Welche Rolle spielen die Flügel in der aktuellen Fraktion überhaupt?

Matthias Miersch: Sie spielen eine sehr wichtige Rolle. Innerhalb der Flügel findet bei strittigen Themen eine Vordebatte statt, bei der bereits ausgelotet wird, welche Position man beziehen will und wo mögliche Kompromisslinien liegen könnten. In einer Fraktion mit mehr als 150 Abgeordneten breit zu diskutieren, ohne vorher ein gewisses Gefühl zu haben, wo die Debatte hingeht, wäre ganz schwierig.

Dirk Wiese: Diese Debatten innerhalb der Flügel bieten die Möglichkeit, offener und breiter zu diskutieren. In einer Volkspartei wie der SPD gibt es immer unterschiedliche Interessen und Ansätze, wie Politik gestaltet werden soll. Die Flügel können Debatten anstoßen und Projekte mehrheitsfähig machen. Daraus können sich dann auch Linien für die SPD ergeben. Seeheimer und PL arbeiten da konstruktiv zusammen.

Das klingt alles sehr harmonisch.

Wo unterscheiden sich Seeheimer und Parlamentarische Linke grundsätzlich?

Matthias Miersch: Ich meinte es ja eben schon, wir als Parlamentarische Linke wollen seit Jahren Rot-Rot-Grün als echte Alternative zur großen Koalition aufbauen, jetzt in Bremen findet das ja erstmals in Westdeutschland statt. Für mich ist das eine gesellschaftspolitische Grundsatzfrage. Aber ich würde sagen, auch in unserem Auftreten unterscheiden wir uns deutlich. Die Seeheimer agieren aus meiner Sicht sehr machtbewusst. Am deutlichsten wird das bei der jährlichen Spargelfahrt. Auf unserem Sommerfest geht es bescheidener und moderater zu.

Dirk Wiese: Für mich ist klipp und klar, dass ich nur gestalten und etwas voranbringen kann, wenn ich eine Mehrheit habe und regiere. Das ist der Anspruch des Seeheimer Kreises – was allerdings nicht bedeutet, nur zu regieren um des Regierens willen. Von daher sollte man Rot-Rot-Grün gelassen angehen. Aber zur Frage möglicher Regierungsbündnisse will ich schon darauf hinweisen, dass es früher durchaus auch erfolgreiche sozialliberale Koalitionen gegeben hat, die gut funktioniert haben, wie auch aktuell in Rheinland-Pfalz mit FDP und Grünen. Wenn wir über Alternativen zur großen Koalition nachdenken, sollten wir den sozialliberalen Gedanken nicht abschreiben – wenngleich ich mir eine Koalition mit dem derzeitigen Personal der FDP schwierig vorstelle. Und die jährliche Spargelfahrt ist halt sehr bekannt und begehrt.

Von unseren Leserinnen und Lesern bekommen wir häufiger zu hören: Der SPD ginge es ohne die Seeheimer besser, weil es ihnen nur um die Macht geht. Die PL dagegen habe zwar gute Inhalte und schreibe viele tolle Papiere, setze sich aber nie durch. Was antworten Sie darauf?

Matthias Miersch: Diesem Bild würde ich deutlich widersprechen. Wenn Sie einen Blick in Papiere der Parlamentarischen Linken von vor zehn Jahren werfen, werden Sie sehen, dass vieles von dem, was darin gedacht und gefordert wird, heute State of the Art ist. Dass die großen gesellschaftspolitischen Fragen mit einem handlungsfähigen Staat beantwortet werden müssen, dass die neoliberalen Ausflüge, die wir teilweise gemacht haben, in die Sackgasse führen. Dass wir über ein gerechteres Steuersystem sprechen – all das sind politische Linien, die schon lange Zeit von unserem Flügel vorgezeichnet wurden. Ohne PL-Vordenker wie Hermann Scheer und Michael Müller hätten wir heute kein Erneuerbare-Energien-Gesetz. Nichtsdesto­trotz muss die Linke insgesamt immer aufpassen, dass sie nicht nur in Wohlfühlräumen diskutiert, sondern auch mal sagt, was sie wie umsetzen will. Das Gleichgewicht zwischen Pragmatismus und Geradlinigkeit ist etwas, mit dem wir uns innerhalb der PL immer wieder auseinandersetzen müssen.

Dirk Wiese: Das Bild, das es von uns Seeheimern gibt, kenne ich. Manchmal habe ich den Eindruck, Ursache alles Mystischen und Schlechten in der SPD ist aus der Perspektive einiger Mitglieder der Seeheimer Kreis. Woher das kommt, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, dass die Dinge meistens viel profaner sind als sie für manche scheinen. Und nebenbei schreiben auch wir gute Papiere. Sie sind vielleicht sprachlich etwas direkter und kommen schneller auf den Punkt. Dies schmälert aber nicht unseren inhaltlichen Anspruch, was insbesondere unser „Mut zu mehr“-Papier vom Jahresanfang gezeigt hat. Dies hat sehr viele positiv überrascht. Wir verstehen unsere Papiere aber eher nicht als Beiträge zu Grundsatzdebatten, vielmehr möchten wir damit Impulse für die Arbeit der SPD-Bundestagsfraktion geben.
Kommen wir vom Allgemeinen zum Konkreten: Ende des Jahres steht die Halbzeitbilanz der großen Koalition an, Stichwort Revisionsklausel.

Wo liegen für Sie die roten Linien?

Matthias Miersch: Die Frage der Halbzeitbilanz ist für mich eine ganz entscheidende. Sie darf kein Placebo sein. Wir müssen uns am Ende des Jahres die Frage stellen: Was haben wir bislang umgesetzt? Was haben wir noch vor uns? Und was haben wir möglicherweise auch noch vor uns, was nicht in diesem Koalitionsvertrag geregelt ist? Wenn wir es nicht hinkriegen, zentrale Dinge wie etwa das Klimaschutzgesetz umzusetzen, dann muss man ehrlich sein und sagen: Diese große Koalition kann die großen Herausforderungen nicht bewerkstelligen. Und dann muss man eben auch sagen: Es geht nicht mehr.

Dirk Wiese: Neben dem Klimaschutz würde ich noch das Thema Grundrente nennen. Auch da müssen wir ganz ratio­nal entscheiden, ob wir noch Chancen sehen, sie mit der Union umzusetzen. Wenn das so ist, stehen die Zeichen auf Fortsetzung der großen Koalition. Ist dem nicht so, müssen wir die Koalition verlassen. Ich persönlich sehe aber gute Ansätze, dass wir noch einiges gemeinsam umsetzen können. Letztlich muss das der Parteitag bewerten. Dabei ist mir nur ganz wichtig, dass die Entscheidung, die er fällt, auch von allen in der Partei akzeptiert wird.

Die SPD ist derzeit auf der Suche nach einer neuen Führung. Welche ­Qualitäten muss der oder die neue Vorsitzende oder das neue Partei­vorsitzenden-Duo mitbringen?

Dirk Wiese: Die neue Parteiführung muss begeistern können. Sie muss Politik wieder lebendig machen wollen. Sie muss die SPD auch aus einer gewissen Lethargie herausführen. In der SPD neigen wir dazu, zu sagen, das Glas ist halb leer. Mir wäre es lieber, dass wir positiv nach vorne schauen. Deshalb ist für mich am wichtigsten, dass die Parteiführung eine Vision davon hat, wohin wir als Partei wollen – bei der ­Digitalisierung, beim Klimaschutz, bei der Zukunft der Arbeit und nicht zuletzt bei der Frage einer sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik.

Matthias Miersch: Den Markenkern der SPD inhaltlich zu definieren, halte ich für zentral. Die zweite mindestens genauso wichtige Sache ist, die Partei organisatorisch neu aufzustellen. Als Vorsitzender des Bezirks Hannover, der ich jetzt seit wenigen Wochen bin, weiß ich, wovon ich rede. Wenn wir weiterhin den Anspruch haben, Volkspartei zu sein, stehen wir da vor massiven ­Herausforderungen.

Dirk Wiese: Ja, die Partei in der Fläche wieder zu stärken, ist ein entscheidender Punkt. Dafür brauchen wir neue Diskussionsformen und neue Arten der Beteiligung. Die SPD haben in ihrer ­Geschichte stets funktionsfähige Ortsvereine ausgezeichnet. Die Menschen, die sich vor Ort kümmern, waren und sind das Rückgrat der Partei. Das sollten wir wieder deutlicher hervorheben und ins Zentrum rücken.

Matthias Miersch: Und ich erwarte Teamfähigkeit. Eine Parteiführung muss ein Gremium sein, in dem um den besten Weg gerungen wird. Ego-Shooter haben da keinen Platz.

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