Es ist vorbei. Das Endergebnis steht fest. Nach einem Jahr Regierungszeit und dreitägigem Wahlkrimi tritt die erste Ministerpräsidentin Schwedens, Magdalena Andersson, zurück. Und das, obwohl sie Beliebtheitswerte um die 50 Prozent hat und die sozialdemokratische Partei mit mächtigen 30 Prozent die größte Fraktion im Parlament stellt.
Wurzeln in der Neonazi-Bewegung
Die Stimmung der letzten Tage erinnert an Großbritannien nach dem Brexit-Referendum. Teile der Bevölkerung sind von einem tiefen Schock erfasst, andere geben sich triumphierend, euphorisiert. Der dritte Teil bleibt angestrengt pragmatisch – es gibt noch die kleine Hoffnung, dass die knappe Mehrheit von 176 zu 173 Sitzen keine Koalitionsbildung zulässt. Vielleicht bricht die liberale Partei noch aus dem bürgerlich-konservativ-rechten Lager heraus, das derzeit die zerbrechliche Mehrheit hält. Es könnte ja noch einiges passieren, bis der Sprecher des Parlaments, der neue „Talman“, nach seiner Wahl am 20. September den mehrheitsfähigsten Parteichef aufruft, eine Regierungsbildung anzustreben.
Internationale Medien blicken verstört auf den zweiten Wahlgewinner: die Schwedendemokraten. Mit ihren Wurzeln in der schwedischen Neonazi-Bewegung und individuellen Beziehungen zu dem gewalttätigen Nordic Resistance Movement (nordische Widerstandsbewegung) und anderen zweifelhaften Organisationen sticht sie hervor im Reigen der mittlerweile häufigen, rechts-populistischen Bewegungen Europas. Die populistisch-rechtsradikale Partei ist seit ihrem Einzug ins Parlament 2006 bei vier Wahlen nacheinander jeweils stark gewachsen. Ihr aktueller Gewinn katapultiert sie nun in die inoffizielle Rolle des Oppositionsführers. Selbst in Schweden ahnte das niemand – bis kurz vor dem Wahlsonntag. Ein NGO-Bericht stellte noch kurz vor der Wahl fest, dass 214 der Kandidatinnen und Kandidaten der Partei direkte Verbindungen zum Rechtsextremismus haben.
Ausdruck der europäischen Normalität?
Und nun, hat ihr Parteiführer deswegen etwa Anspruch auf die Regierungsbildung? Das ist die einzige Frage, die man klar verneinen kann. Denn trotz aller Popularität kann Jimmie Åkesson, Vorsitzender der Schwedendemokraten, der selbst früher kurz bei den Moderaten war, nur auf Stimmen aus seiner eigenen Partei setzen. Das genügt in Schweden nicht als Ausgangsbasis für den Auftrag der Regierungsbildung.
Manche sehen den Wahlerfolg der Rechten als Ausdruck der europäischen Normalität – quasi ein Nachholen innerhalb Europas, wo sich extrem rechte Stimmen etabliert haben, unter anderem in Österreich oder Frankreich. Wo konservative Parteien immer radikaler wurden und sich nach rechts öffneten, wo die Rechtsradikalen das ein oder andere Mal an Regierungen beteiligt waren und sie im Parlament immer größere Mehrheiten und immer öfter Bürgermeisterinnen und Bürgermeister stellen. Wo in Italien die Gefahr des Neofaschismus real ist.
Einige Sozialdemokraten und Linke äußern sich in den sozialen Medien am Boden zerstört: „Skandinavien wird nie mehr so sein, wie es war“. Aber wie war, beziehungsweise ist denn Skandinavien? Oder besser gesagt, wie ist Schweden? Passt das Fremdbild des „sozialdemokratischen Paradieses“ mit starkem friedlichem Gemeinwesen, sozialer Gerechtigkeit und einer klassenlosen Wohlfahrtsgesellschaft überhaupt (noch) mit dem schwedischen Selbstbild zusammen?
Reale Abstiegsängste und zunehmende soziale Ungleichheit
Wer die Debatten im Land längerfristig mitverfolgt hat, weiß, dass einige Schweden längst kein rosiges Selbstbild mehr haben. Im diesjährigen Wahlkampf überwog ein düsteres Bild des eigenen Landes. Die Narrative erzählten von einer Realität, geprägt vom russischen Angriffskrieg, der Energiekrise, Inflation und Rezession, von realen Abstiegsängsten und zunehmender sozialer Ungleichheit, von täglich hoher Kriminalität, der Unschuldige – ja Kinder – teils tödlich zum Opfer fallen, von der Aushöhlung und Privatisierung des Wohlfahrtsstaates, mangelnden Bildungszugängen, horrenden Kosten beim Zahnarzt und mangelhafter Pflege- und Krankenversorgung. Verblüffenderweise waren sich alle Parteien einig, dass die Zukunft so düster aussehen wird, sollte der Status quo bleiben. Dabei fehlte ein Thema, das Angst vor der Zukunft macht, fast gänzlich im Wahlkampf: Im Land Greta Thunbergs wurde die Klimakatastrophe kaum debattiert.
Viele Schwedinnen und Schweden sind unzufrieden, gar frustriert. Menschen mit niedrigem Einkommen und Ausbildungsniveau in einkommensschwachen Gegenden finden, dass sich das Land falsch entwickelt. Die Partei der Schwedendemokraten ist das Sammelbecken für Ängste und Unzufriedenheit. Sie gilt bei einigen Wählerinnen und Wählern als wirtschaftspolitisch links, weil sie verspricht, das Arbeitslosengeld nicht abzusenken, aber verstaatlichen zu wollen.
Schwedendemokraten als Sammelbecken für Ängste und Unzufriedenheit
Gegen eine linke Ausrichtung spricht ihr unterkomplexer Problemlösungsansatz, der sich auf die Formel zero asylum, zero migration herunterbrechen lässt: Da „Ausländer“ die Wurzel allen Übels seien, könne Schweden nur gerettet werden, wenn es die ethnischen Schweden an erste Stelle setze. Die daraus resultierenden Politikvorschläge der SD reichen in der Außenpolitik von der verschärften Abschiebung über die Abschaffung der feminist foreign policy bis hin zur Streichung der Entwicklungszusammenarbeit – was höchstwahrscheinlich kontraproduktiv wäre, Stichwort Fluchtursachenbekämpfung.
Auch beim genaueren Blick auf die Arbeitsmarktpolitik wird klar, dass die arbeiterfreundliche Rhetorik keine wirkliche ideologische Überzeugung darstellt. Moderate, Christdemokraten, Schwedendemokraten und Liberale sind sich beispielsweise einig, dass sie Streiks limitieren und Sympathiebekundungen innerhalb der Gewerkschaftssolidarität erschweren wollen. Außerdem beabsichtigen sie, das sogenannte Ghent System der Gewerkschaften abschaffen.
Die Arbeitslosenversicherung gehört in Schweden nämlich nicht zum staatlichen Pflichtversicherungssystem, sondern wird von Mitgliederkassen verwaltet und mit einer Ausnahme von den Gewerkschaften geleitet. Das schafft Anreize für Arbeiterinnen, die gut versichert sein wollen, den Gewerkschaften beizutreten, und erklärt die weltweit höchsten Organisationsgrade der Gewerkschaften im Norden. Der hohe Organisationsgrad wiederum macht eine wesentliche Stärke der Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen aus. Den Vorschlag der Schwedendemokraten, nun die Arbeitslosenzahlungen zu verstaatlichen, verstehen die Gewerkschaften als direkten Angriff auf das Schwedische Modell, in dem starke Sozialpartner eine Grundsäule sind. Und wer weiß, vielleicht hoffen die Schwedendemokraten zusätzlich, dass sie mit der Kontrolle über diese Zahlungen in Staatshand gezielt die Finanzierung einer ihrer Interessengruppen (Arbeitslose) bedienen können.
Angriff auf das Modell des Sozial- und Wohlfahrtsstaates
Mit anderen Worten, sie wollen das Schwedische Modell des Sozial- und Wohlfahrtsstaates kompromittieren – das ganz wesentlich auf den Tarifverhandlungen starker Sozialpartner beruht, nämlich den Arbeitgebern und den Gewerkschaften – und die Gewerkschaften schwächen. In den öffentlichen Wahldebatten hat diese Arbeitsmarktpolitik der Schwedendemokraten erstaunlicherweise keine Rolle gespielt.
Vor allem sind die Schwedendemokraten aber auch von den Ansätzen der illiberalen Demokratien in Europa fasziniert, wie beispielsweise in Ungarn. In Schweden wird nun unter anderem auch davon gesprochen, kriminelle Organisationen stärker zu bekämpfen. Was eine kriminelle Organisation genau definiert, ist allerdings unklar, besonders, ob es über das organisierte Verbrechen hinausgehen soll. Mögliche Eskalationsszenarien – neben der angestrebten Einschränkung der Rechtssicherheit der Gewerkschaften – sind natürlich vor allem für Minderheiten schwindelerregend: In illiberalen Demokratien wurden Organisationen wie Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen plötzlich mit zweifelhafter Rechtsgrundlage kriminalisiert.
Inwieweit die Schwedendemokraten ihre Forderungen durchsetzen können und bei welchen Politikfeldern sie Kompromisse machen müssen, kann niemand vorhersagen. Genauso wenig ist abzusehen, ob es bei den bereits begonnenen Gesprächen zwischen den konservativen Moderaten und dem Parteiführer der Schwedendemokraten lediglich um Politikvorschläge oder auch um eine Regierungsbeteiligung in Form von Ministerämtern geht.
Was Sozialdemokrat*innen jetzt tun müssen
Daher wird die Welt auch in den kommenden Tagen gebannt nach Schweden blicken. Allerdings würde auch mit den Schwedendemokraten in der Regierung der Russlandkurs vorerst gehalten werden. Die Schwedendemokraten haben, wie fast alle Parteien im schwedischen Parlament, für den NATO-Beitritt gestimmt. In der Frage des russischen Angriffskriegs sind die Schwedendemokraten auf der Seite der Ukraine. Allerdings gab es in der Vergangenheit der Partei auch immer Russlandbewunderer, und selbst dem Parteichef fiel im Interview die Wahl zwischen Wladimir Putin und Joe Biden in der Vergangenheit schwer, so dass die Frage im Raum steht, ob Teile der Partei im Hinblick auf die Außenpolitik ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten.
Die Sozialdemokratinnen und -demokraten in Schweden müssen jetzt schnell Strategien und vor allem gefestigtere Allianzen entwickeln, um den Schwedinnen und Schweden den Weg in eine bessere, sozial gerechtere demokratische Zukunft aufzuzeigen. Sonst wird es immer schwieriger, die Rechten mit ihren Agenden aus der Regierungsverantwortung herauszuhalten oder gar zu stoppen. Denn der Zuspruch droht, sie immer mehr zu legitimieren.
Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.