Europa-Rede des Bundeskanzlers

Scholz-Rede in Prag: Wie sich die EU in der „Zeitenwende“ ändern muss

Lars Haferkamp29. August 2022
Europapolitische Grundsatzrede: Bundeskanzler Olaf Scholz am 29. August 2022 in der Prager Karls-Universität
Europapolitische Grundsatzrede: Bundeskanzler Olaf Scholz am 29. August 2022 in der Prager Karls-Universität
In einer Grundsatzrede in Prag fordert Olaf Scholz Reformen und mehr Zusammenhalt in der EU. Der Ukraine sagt der Bundeskanzler weitere Hilfe zu. Eine klare Ansage schickt Scholz nach Warschau und Budapest.

Bundeskanzler Olaf Scholz plädiert angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine für einschneidende Reformen der EU. In seiner europapolitischen Grundsatzrede in der Prager Universität stellte er dazu seine Vorstellungen vor, die seinen Ausdruck der „Zeitenwende“ weiter mit Leben füllen. Die Bedrohung durch Putins Russland stand dabei im Mittelpunkt.

Gleich zu Beginn spricht der Kanzler in Prag von einer „Trennlinie“ zwischen dem „freien Europa“ und der „neo-imperialen Autokratie“ Russlands. „Putins Russland will mit Gewalt neue Grenzen ziehen“, so Scholz – „etwas, das wir in Europa nie wieder erleben wollten“. Der brutale Überfall auf die Ukraine sei deshalb auch ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung. „Dem stellen wir uns mit aller Entschlossenheit entgegen.“ Dafür nötig sei aber eigene Stärke der EU.

Scholz: „Das ist die neue Friedensaufgabe Europas“

So müsse die Europäische Union müsse befähigt werden, ihre Sicherheit, Unabhängigkeit und Stabilität gegen äußere Einflüsse zu verteidigen. „Das ist die neue Friedensaufgabe Europas“, betont Scholz. Deshalb seien „europäische Antworten auf die Zeitenwende“ nötig.

Die erste davon lautet für den Kanzler: „Wir nehmen Russlands Angriff auf den Frieden in Europa nicht hin! Wir sehen nicht einfach zu, wie Frauen, Männer und Kinder umgebracht, wie freie Länder von der Landkarte getilgt werden und hinter Mauern oder eisernen Vorhängen verschwinden.“ Dafür sei eine klare „gelebte Absage an Imperialismus und Autokratie“ durch die EU nötig.

Putin ist gegen das vereinte Europa

Für Scholz ist klar: „Putin ist genau dieses vereinte Europa ein Dorn im Auge. Weil es nicht in seine Weltsicht passt, in der sich kleinere Länder einer Handvoll europäischer Großmächte zu fügen haben.“ Umso wichtiger sei es daher, „dass wir unsere Idee von Europa gemeinsam verteidigen“.

Dazu gehöre die umfassende Unterstützung der angegriffenen Ukraine: „wirtschaftlich, finanziell, politisch, humanitär und auch militärisch – hier hat Deutschland in den letzten Monaten grundlegend umgesteuert.“ Berlin werde diese Unterstützung aufrechterhalten, so lange das nötig sei.

Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine in Berlin

Das gelte auch für den Wiederaufbau der Ukraine. „Darum wird es bei einer Expertenkonferenz gehen, zu der Kommissionspräsidentin von der Leyen und ich die Ukraine und ihre Partner aus aller Welt am 25. Oktober nach Berlin einladen“, so Scholz.

Der Kanzler kündigt für die nächsten Wochen und Monate „neue, hochmoderne Waffen“ für die Ukraine an. Das Ziel seien „moderne ukrainische Streitkräfte, die ihr Land dauerhaft verteidigen können.“ Dazu kann sich Scholz auch vorstellen, „dass Deutschland besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung übernimmt.“

Scholz für EU-Erweiterung nach Osten

Der Bundeskanzler macht sich in Prag nachdrücklich für eine Ost-Erweiterung der EU stark. „Ich setze mich ein für die Erweiterung der Europäischen Union – um die Staaten des Westbalkans. Um die Ukraine. Um Moldau und perspektivisch auch um Georgien.“ Dafür müsse sich aber auch die EU fit machen durch institutionelle Reformen.

Konkret plädiert Scholz hier für einen regelmäßigen Rat der EU-Verteidigungsminister*innen und einen schrittweisen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in der EU. Abhängigkeiten von nichteuropäischen Lieferanten im Rohstoffbereich müssten „schnellstmöglich“ beendet werden. Auch müssten Fähigkeiten und Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik deutlich verbessert werden. Scholz plädiert für ein „gemeinsam aufgebautes Luftverteidigungssystem in Europa“ und eine ständige EU-Kommandozentrale für militärische Auslandseinsätze.

Neue Einigkeit bei Migration und Finanzen

„Putins Russland definiert sich auf absehbare Zeit in Gegnerschaft zur Europäischen Union. Jede Uneinigkeit zwischen uns, jede Schwäche wird Putin ausnutzen“, warnt der Kanzler. Andere Autokraten würden das nachahmen, auch China. Deshalb müsse die EU nun die Reihen schließen und alte Konflikte überwinden. Das gelte etwa für die Migrations- und Finanzpolitik, die in den vergangenen Jahren oft die Spannungen geführt hätten. „Zeitenwende, das muss für die europäische Politik heißen: Brücken zu bauen, statt Gräben aufzureißen“, betont der Kanzler.

Schließlich richtet er von Prag aus noch eine klare Ansage an die Regierungen in Warschau und Budapest: Es mache ihm „Sorgen, wenn mitten in Europa von `illiberaler Demokratie‘ geredet wird – so als wäre das nicht ein Widerspruch in sich. Deshalb können wir es nicht hinnehmen, wenn rechtsstaatliche Prinzipien verletzt und demokratische Kontrolle zurückgebaut wird.“ Und er fährt fort: „Für Rassismus und Antisemitismus darf es in Europa keine Toleranz geben!“

Klare Ansage zu EU-Grundwerten

Deshalb unterstütze Deutschland die EU-Kommission und das EU-Parlament „in ihrem Einsatz für die Rechtsstaatlichkeit“. Scholz unterstützt den Vorschlag, „Zahlungen konsequent an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards zu knüpfen“.  Darüber hinaus solle die Kommission neue Möglichkeiten erhalten, „Vertragsverletzungsverfahren auch dann einzuleiten, wenn gegen das verstoßen wird, was uns im Kern zusammenhält: gegen unsere Grundwerte“.

Bundeskanzler Olaf Scholz zeigt sich am Ende seiner Prager Rede überzeugt: Die EU habe alle Möglichkeiten, ihre Zukunft zum Guten zu gestalten. Und er lässt keinen Zweifel: „Europa ist unsere Zukunft. Und diese Zukunft liegt in unseren Händen.“

Hier lässt sich die Rede im Wortlaut nachlesen.

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Kommentare

ja, was sein müsste- da sind die vorgetragenen

Vorstellungen richtungweisend- und dennoch wissen wir alle, dass es so nicht kommen wird- die Konstruktion ist eine Fehlkonstruktion, und sie ist schon deshalb nicht reformierbar, weil jede Reform einen Machtverzicht erfordern würde, und warum sollte zB Malta darauf verzichten, mi Deutschland auf Augenhöhe zu agieren, beispielsweise im rahmen der EZB. Nur weil Deutschland ein ungleich höheres Haftungsrisiko trägt? Dem hätte man zuvor Rechnung tragen müssen, jetzt ist es zu spät, auch für eine Reform der EU- Auflösen und unter neuer Flagge neu starten, wenn das ginge, wäre es ein weg- aber: Auch dies geht nicht. So warten wir denn auf den Zerfall, den Austritt immer mehr der leistungsfähigen Staaten oder dem ungezügelten beitritt immer mehr nicht leistungsfähiger Staaten- das läuft in letzter Konsequenz aufs selbe raus. reformresistent ist auch die BRD in ihrer förderalen Struktur, oder der ÖRR. Die Ursache ist stets diesselbe

Die EU

Wir wissen ale um den Reformbedarf der EU. Die überstürzte Erweiterung der EU um Staaten, die ihren irrwitzigen Nationalismus pflegen und nationale Minderheiten diskriminieren, die immer noch meinen mit Nachbarn innerhalb und außerhalb der EU "ein Hühnchen rupfen" zu müssen, die Unterordnung der EU unter die nicht demokratisch organisierte NATO, die internen Demokratiedefizite der EU ....... all das häuft sich so, daß viele Menschen denken die EU sei nicht reformierbar. Die Aufnahme des asiatischen Landes Georgien will mir garnicht in den Kopf.
Scholz sprach, zur Erbauung gewisser Kreise, von der Bedrohung durch Russland.
Im Jahr 1988 sprach ein stellvertretender JuSo Bundesvorsitzender von der Bedrohung durch NATO und USA. Wie hieß denn der ?

Die EU

Genau, bereits Helmut Schmidt hatte die überstürzte Erweiterung der EU kritisiert und für eine Abschaffung der Einstimmigkeit in wichtigen Fragen plädiert. Bei 27 Mitgliedern, dazu solchen wie Polen und Ungarn, eine Einstimmigkeit in wesentlichen Fragen herzustellen, kann nur auf faule Kompromisse hinauslaufen.

„Europa ist unsere Zukunft,

und diese Zukunft liegt in unseren Händen“. (Das ist, in einem Satz zusammengefasst, die Botschaft der Scholz-Rede in Prag (29.8.).) Wer wollte dem widersprechen!

Einzelheiten aber müssen diskutiert werden.
Scholz zieht eine „künftige Trennlinie zwischen dem freien Europa und einer neoimperialen Autokratie“. Sie reicht von Finnland bis („perspektivisch“) Georgien. Das „freie Europa“ wäre damit Nachbar des Iran und einziger westlicher Nachbar der Russischen Föderation (von Belarus abgesehen); in ihr wäre „eine starke und unabhängige Ukraine ... von entscheidender Bedeutung für die Stabilität des euro- atlantischen Raumes“ (Stoltenberg, Nato-Generalsekretär). Damit greift unser Bundeskanzler die „Vision der Europäischen Nachbarschaftspolitik“ (ENP) auf, die „einen Ring aus Ländern“ (EU-Strategiepapier vom 12.5.2004) um die (alte) EU legen will: Eine alte Strategie, „Cordon sanitaire“, mit der nach dem Ersten Weltkrieg eine Pufferzone zwischen Westeuropa und der neuen Sowjetunion gelegt werden sollte. (Heute nennt man das Interessenzonen.) ENP ist die „Umsetzung der Ziele der Europäischen Sicherheitsstrategie“ (KOM/2004/0373 endg.).

„Europa ist unsere Zukunft_2

Die „Östliche Partnerschaft“ dehnte die „direkten Nachbarn“ der EU (Auswärtiges Amt am 20.12.20) auf Ukraine, Moldau, Belarus, Georgien, Armenien und Aserbaidschan aus. Die letzten drei sind für eine „Zusammenarbeit im Energiebereich ...sehr wichtig“ (KOM/2004/0373 endg.).

„Dass die EU weiter in Richtung Osten wächst, ist für uns alle ein Gewinn“ (Scholz). Könnte es zum mindesten sein, wenn nicht die Russische Föderation dieses Wachsen „in Richtung Osten“ (vor allem der Nato) nur mit großer Erbitterung begleitet hätte. „Putins Russland definiert sich auf absehbare Zeit in Gegnerschaft zur Europäischen Union“, weiß Scholz. Schon im Falle Georgien hat Putin militärisch eingegriffen und seit 2014 in der Ukraine. Solange wir mit der Russischen Föderation keine Einigung über den Status der Anrainerstaaten erreichen, ist dieser Teil vom Programm des deutschen Bundeskanzlers ein Programm, das militärische Konflikte (mit einer atomaren Weltmacht) vorprogrammiert.

Wer kann sowas wollen?!