Der russischen Wirtschaft ging es vor dem Überfall auf die Ukraine gut. Die Erholung von der Pandemie war mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 3,5 Prozent sehr solide. Es gab einen spürbaren Anstieg der Haushaltseinkommen und einen Tiefstand der Arbeitslosigkeit; Tourismusstatistiken und Abschlusszahlen von Privatkrediten verzeichneten einen Sprung nach oben. Der Staatshaushalt war saniert und üppig, die Geschäftslaune gut. Dann kam die Kriegsentscheidung.

Sanktionen gegen Russland: Einzigartige Blockade

Noch nie wurde eine globalisierte Wirtschaft (Russland hat unter den BRICS-Staaten die höchste Importquote am BIP) mit einer derartigen Blockade konfrontiert. Allein das eingefrorene Vermögen der Russischen Zentralbank liegt mit 300 bis 400 Milliarden US-Dollar weit über der Summe der Währungsreserven der Deutschen Bundesbank. Von diesem Instrument des Westens wurde Moskau tatsächlich überrascht: Der Rubel schnellte in den Abgrund. In den ersten zwei Kriegswochen meldeten russische Banken einen Abfluss von 30 Milliarden US-Dollar von ihren Konten. Ein regelrechter Schaltersturm setzte ein.

Die Regierung und die Zentralbank reagierten blitzartig mit Währungskontrollen, einer Börsenschließung, einer Leitzinsverdopplung auf 20 Prozent und neuen Regelungen zum Zwangsverkauf von Fremdwährungseinnahmen von privaten Unternehmen. De facto hat der Kreml das liquide Kapital innerhalb der russischen Ökonomie eingesperrt und diese dadurch stabilisiert. Man muss anerkennen: Das hat funktioniert und ist ein beachtlicher Erfolg der russischen Regierung.

Der erste Schlag der Sanktionen wurde mit diesem „künstlichen Koma“ gekonnt abgefangen. Die Kehrseite dieser Abwehrstrategie ist allerdings eine spürbare Abkühlung der gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten – die Bevölkerung und die Unternehmen brachten das abgehobene Geld wieder zur Bank und nun verbleibt es dort. Die für Russland sehr wichtigen Auslandsinvestitionen werden sich dagegen wohl kaum erholen.

Schwere Rezession steht bevor

Russland steht vor einer schweren Rezession, so viel ist unstrittig. Der prognostizierte Einbruch der Wirtschaftsleistung beläuft sich auf 10 bis 15 Prozent des BIP. Wichtiger ist jedoch die Frage, was danach folgt. Die Analyse von Rezessionen wird oft mit den Lettern V, U, W oder K veranschaulicht, diese illustrieren in Kurvenform den Verlauf der Krise. V steht für einen rapiden, einmaligen Schock und eine schnelle Erholung – eigentlich das „Best Case“-Szenario nach einer Erschütterung. U hat eine Talsohle, sodass es wegen anhaltender Kriseneffekte länger dauert, bis die Wirtschaft wieder in die Gänge kommt, W beschreibt den „double-dip“, eine längere Phase von massiven Turbulenzen mit einer anschließenden Erholung auf das Vorkrisenniveau und bei K differenziert sich die Erholung nach einzelnen Sektoren auseinander. Aber die Prognose für Russland ist anders, es ist das L. Dieses Szenario beschreibt einen massiven Abfall der Wirtschaftsleistung, der erst auf einem substanziell niedrigeren Niveau endet und dem keine Erholung folgt.

Vor diesem Hintergrund sind die Erfolge der anfänglichen Finanz- und Währungsstabilisierung weniger glanzvoll. Die eigentliche Herausforderung ist die kontinentale Entkopplung und Herauslösung Russlands aus Handels- und Lieferbeziehungen. De facto schauen wir einer einmaligen Deindustrialisierung zu, die eine recht weit fortgeschrittene kapitalistische Wirtschaft um 30 Jahre zurückwirft. Kein Kollaps also, sondern eine Regression. Dies lässt sich anhand der vier folgenden Beobachtungen illustrieren.

Lohnrückgang, Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit

Erstens: Der Arbeitsmarkt meldet erste Krisensymptome, es gibt einen nominellen Lohnrückgang wegen Betriebsschließungen oder Kurzarbeit. Diese wird in Russland den Betrieben staatlich aufgezwungen und muss aus Unternehmensmitteln bezahlt werden, um die „tatsächliche“ Arbeitslosigkeit zu verschleiern. Der Lohnrückgang liegt so je nach Branche zwischen 8 und 25 Prozent. Einige staatliche Betriebe bereiten ihre Belegschaft mit der Zuteilung von Datschengrundstücken auf Selbstversorgung vor – damit die sich auftuende Lohnlücke zumindest bei Eigenernährung privat gedeckt werden kann.

Jobportale registrieren eine sinkende Zahl der Stellenanzeigen und einen kräftigen Anstieg von Jobgesuchen. Etwa 12 Prozent der formell beschäftigten Russinnen und Russen (circa 8 Millionen Menschen) sind abhängig von ausländischem Kapital, der entsprechenden Unternehmenspräsenz sowie ungestörten Handelsbeziehungen. Der Rückzug oder das Einfrieren von ausländischen Produktionsstätten (Volkswagen, Peugeot, Volvo, Bosch, Ikea etc.) trifft auch russische Zuliefererfirmen hart. Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit zum Ende des Jahres ist unumgänglich. Auswirkungen davon sieht man bereits im Einzelhandel und bei russischen Zahlungsdiensten. Die Konsumlaune ist dramatisch getrübt.

Einbruch bei Import und Produktion

Zweitens: Neuerdings werden amtliche Zoll- und Handelsstatistiken als Verschlusssache eingestuft, sodass man bei der Analyse auf indirekte Daten sowie Exportstatistiken der Handelspartner*innen zurückgreifen muss. Der Trend ist trotzdem unverkennbar. Wegen der Import-Export-Sanktionen, der Schließung des europäischen Luftraums und der Unterbrechung von logistischen Wegen (die EU war mit einem Anteil von 36,5 Prozent an den Gesamtimporten zentral) sind die Einfuhren nach Russland um bis zu 60 Prozent eingebrochen.

Dazu kommen nachholende Effekte der globalen Logistik- und Containerkrise im Schatten der Pandemie. Was nicht mehr eingeführt werden kann, sind aber nicht nur Konsumgüter, sondern vor allem wesentliche technische Lösungen für Verarbeitungsprozesse innerhalb Russlands. Unterschiedlichste Industriesektoren schrumpfen zusehends – die Herstellung von Stahl ist um 25 bis 30 Prozent, die Produktion von Holz um bis zu 80 Prozent gesunken. Der Automobilsektor verzeichnet bis Ende Mai einen Rückgang von bis zu 97 Prozent (!) des bisherigen Produktionsvolumens.

Der russische Staat bemüht sich darum, die Industrie-Lücken, die solche Konzerne wie Stellantis (Peugeot, Citroёn, Opel, Jeep und Fiat) nach ihrem Rückzug zurücklassen, durch die Wiederbelebung einheimischer Automobilherstellung zu schließen, aber eben auf einem geringeren technologischen Niveau – ohne Airbags, ABS-Systeme und komplexe Elektronik. Man organisiert unter Hochdruck domestischen Ersatz für Tetrapak-Verpackungen, Küchengeräte, Coca-Cola und McDonalds. Einiges wird gelingen, allerdings ist der Ersatz von Computerchips, Servern, Industrierechnern und Smartphones aus eigener Kraft schlicht nicht möglich.

Kooperation mit China kein Ersatz

Drittens: China ist kein Retter in der Not. Die Importe aus der Volksrepublik sind mittlerweile halbiert worden. Die chinesische Kreditkartenorganisation Union Pay kann die Lücke nicht füllen, die MasterCard und Visa hinterlassen. Russische Flugzeuge fliegen chinesische Flughäfen nicht an, da sie Pfändungen im Auftrag der westlichen Leasingfirmen befürchten müssen. Trotz der Legalisierung der sogenannten Parallelimporte erfüllen sich bisher die Hoffnungen des Kremls auf eine schnelle Neukonfiguration der russischen Handelsbeziehungen keineswegs. Chinesische Firmen meiden Konstellationen, bei denen sie in die Nähe von westlichen Sekundärsanktionen geraten könnten.

Dadurch bedingt kommen eben keine chinesischen Ersatzteile für zivile Flugzeuge. Huawei schließt Filialen, Lenovo und Xiaomi ziehen sich ebenfalls leise und schrittweise aus Russland zurück. Auch als neue Kundin für Energielieferungen und damit als Abhilfe beim westlichen Ölembargo und der Gasentkoppelung kommt China nur partiell in Frage. Der Aufbau der notwendigen Pipeline- und Lieferinfrastruktur könnte nach russischen Schätzungen bis zu zehn Jahre dauern.

Rubel-Kurs als Isolations-Indikator

Viertens: Die Stärke des Rubels ist kein Zeichen der wirkungslosen Sanktionen, sondern der eigentliche Indikator für das Ausmaß der Isolation Russlands aus der Weltwirtschaft sowie für die massive Schrumpfung der Binnennachfrage. Vor dem Hintergrund der ausfallenden Importe beläuft sich der Leistungsbilanzüberschuss auf über 110 Milliarden US-Dollar. Die eingebrochene Nachfrage nach Rubeln zementiert den starken Kurs der russischen Währung. Das wiederum macht die Wettbewerbslage für die Neuausrichtung der russischen Industrie so schwierig. „Exporte sind Gift, Importe wären Medizin“, so German Gref, der Direktor des größten russischen Finanzinstituts Sberbank über die Sackgasse, in der die russische Wirtschaft steckt.

Sind die westlichen Sanktionen nun erfolgreich oder nicht? Das hängt in großem Maße von der Erwartungshaltung ab. Fest steht, die Sanktionen konnten den Krieg nicht aufhalten. Russland gelang es, durch smarte Währungs- und Finanzpolitik den ersten Schlag zu neutralisieren. Auch werden die Sanktionen vermutlich den Krieg in der Ukraine nicht schneller zu Ende bringen. Fraglich ist in diesem Zusammenhang ohnehin, ob Sanktionen generell politische Verhaltensänderungen bewirken.

Kriegskasse unter finanziellem Druck

Die westlichen Sanktionen markieren einen dramatischen Wendepunkt im Umgang mit Russland. Die Sanktionsinstrumente sind nicht mehr „smart“ und selektiv, sondern systemisch und punitiv. Die Zeche zahlt die russische Gesellschaft, die im Gegensatz zur noch stärker werdenden Oligarchie und Obrigkeit keinen wirklichen Ausweg aus der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Sackgasse findet. Der Krieg kostet Russland täglich etwa 500 Millionen US-Dollar. Der enger werdende Spielraum der öffentlichen Haushalte wird durch die Sanktionen zusätzlich belastet. Es ist unklar, woher die Ressourcen für die Unterstützung armer Russinnen und Russen in der einsetzenden Wirtschaftskrise kommen sollen.

Dennoch sind die westlichen Sanktionen wirkungsvoll und eine logische Reaktion auf den Krieg. Sie haben eine Spirale kumulativer Effekte in Gang gesetzt und den Preis für die russische Transgression damit in die Höhe getrieben. Die Effekte der Isolation Russlands addieren sich und haben über Zeit immer mehr Wucht. Importprobleme, fliehende ausländische Unternehmen und Versorgungsengpässe mit westlichen Technologiekomponenten führen bereits zum Auseinanderbrechen der Wertschöpfungsketten im Land. Immer größere Teile der Fertigungsindustrie erlahmen. Dazu kommen immer stärkere Wartungsprobleme, ausbleibende Softwareupdates und fehlende kritische Komponenten.

Russland erlebt einen technologischen Rückgang, der für jeden einzelnen im Land spürbar sein wird. Die Wettbewerbsfähigkeit der Russischen Föderation erodiert. Ein zu starker Rubel, teure Lieferungen, zukunftsskeptische Verbraucher mit kleiner werdenden Geldbeuteln und technologische Probleme setzen dem bisherigen Wachstumsmodell Russlands ein Ende. Die historische Wohlstandsära, die mit der ersten Präsidentschaft Putins vor 23 Jahren einsetzte, ist vorbei.

Dieser Artikel erschien zuerst im IPG-Journal am 14.07.