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Rentenstreit in Frankreich: gefangen in einer Kultur der Konfrontation

Frankreichs Regierung hat einen entschärften Entwurf für eine Rentenreform vorgelegt. Doch verhandeln möchte sie darüber nicht wirklich. Stattdessen hält auch Präsident Macron am altbekannten autoritären Politikstil fest. Der Konflikt wird zu einem schweren Handicap für das Land.
von Thomas Manz · 27. Januar 2020
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Während Wirtschaftsminister Bruno Le Maire Frankreich als „attraktivste Industrienation in Europa“ anpreist, reißen die sozialen Spannungen und Konflikte in unserem Nachbarland nicht ab. War gerade die Bewegung der Gelbwesten abgeflaut, prägten seit Dezember Bilder von Protesten und Streikaktionen gegen die Rentenreform die Wahrnehmung Frankreichs. Der über 40 Tage währende Streik der Eisenbahner und Beschäftigten der Pariser Nahverkehrsbetriebe ist zuletzt zwar abgeebt; doch gelöst ist der Konflikt noch lange nicht. Auch den Kampf um die öffentliche Meinung hat die Regierung noch keineswegs gewonnen. Letzte Umfragen zeigen, dass weiterhin 61 Prozent der Bevölkerung wünschen, dass Präsident Macron sein Reformprojekt zurücknimmt. 

Die Regierung lenkt ein – ein wenig

Angesichts der massiven Proteste und Streiks hatte Premierminister Edouard Philippe zuletzt Bereitschaft zum Einlenken gezeigt – zumindest gegenüber den reformwilligen Gewerkschaften. Er setzte die umstrittene Anhebung des Rentenalters derzeit 62auf 64 Jahre vorerst aus. Von dieser Anhebung des Rentenalters verspricht sich der Premierminister einen Beitrag zu einer ausgeglichenen Finanzierung der Renten ab 2027. Es wird dann ein Defizit in der Rentenfinanzierung erwartet zwischen 7,9 und 17,2 Mrd. Euro.

Ursprünglich hatte Präsident Macron als Ziel seiner Rentenreform die Vereinheitlichung des bislang stark zersplitterten Systems und die Aufhebung von Sonderregelungen für bestimmte Berufsgruppen – darunter die Eisenbahner und Angestellten der Pariser Verkehrsbetriebe – ausgegeben. Diese Botschaft, ein gerechteres und transparenteres Rentensystem schaffen zu wollen, war durchaus auf ein positives Echo gestoßen.

Staatliche Rentenzuschüsse sollen sinken

Doch ihre Verkoppelung mit dem Ziel, durch Veränderungen der Leistungsparameter langfristige finanzielle Stabilität zu sichern, hatte dann Ängste vor einer Verschlechterung der Rentenleistungen bestärkt. Zumal die Dringlichkeit einer finanziellen Konsolidierung des Rentensystems umstritten ist. Sie ergibt sich nicht aus demographischen Zwängen, sondern aus der Entscheidung, die staatlichen Subventionen des Systems zurückzufahren. So erscheint die Anhebung des Rentenalters als Kompensation dieser Verminderung staatlicher Zuschüsse.

Auch vermochte es die Regierung bisher nicht zu erklären, wie das zukünftige, auf einem Punktesystem basierende Rentensystem funktionieren werde, wie die Renten kalkuliert werden und welchen Wert die individuell gesammelten Rentenpunkte haben werden. Zudem wurde das Versprechen, mehr Gerechtigkeit im System zu schaffen, durch neue Ausnahmeregeln und je nach Altersgruppe unterschiedliche Übergangsregelungen stark verwässert. Es sind ganz wesentlich diese handwerklichen politischen Fehler und das dadurch bestärkte Misstrauen gegen eine Regierung, die schon vorher als sozial wenig sensibel galt, die das Ausmaß und die Intensität der Proteste erklären.

Dekretierung oder Verhandlung?

Doch es ist vor allem eine schon seit langem etablierte „Kultur der Konfrontation“, die die Schärfe der Auseinandersetzung erklärt. Gleich einem sozialen Gesetz sehen die Gewerkschaften – wie Jean-Marie Pernot, Forscher am gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut IRES, bemerkt - in jeder Ankündigung von Reformen die Bedrohung sozialer Rechte, auf die mit Protest zu reagieren ist.

Umgekehrt scheint auch für den französischen Staat, der sich als Alleinvertreter des Allgemeinwohls versteht, der Begriff „Verhandlung“ nicht Teil seines Vokabulars zu sein. Gerade Macron, der doch mit dem Versprechen politischer Erneuerung angetreten war, werfen die Gewerkschaften vor, am altbekannten autoritären Politikstil festzuhalten. Der soziale Dialog sei zu einer inhaltslosen Routine degeneriert, die den Gewerkschaften nur die Wahl zwischen Stillhalten und Straßenprotesten lasse.

Jetzt sollen Sozialpartner Vorschläge machen

So verprellte die Regierung zunächst auch die reformbereite größte Gewerkschaft CFDT, die nicht zu den Streiks aufrief. Diese unterstützt die Idee einer Vereinheitlichung des Rentensystems, beharrt aber auf der Trennung dieser Reform von den Finanzierungsfragen. Dass die Anhebung des Rentenalters vorerst vom Tisch ist, kann sich die CFDT deshalb als ihren besonderen Verhandlungserfolg zurechnen – gleichwohl verdankt sie diesen Erfolg dem Druck der Protestaktionen, an denen sie selbst sich kaum beteiligte. Und es bleibt abzuwarten, ob der Erfolg nicht noch zu einem Phyrrussieg wird.

Denn die Aussetzung der Anhebung des Rentenalters ist daran gekoppelt, dass die Sozialpartner im Rahmen einer von der Regierung einberufenen Finanzierungskonferenz bis Ende April alternative Maßnahmen zur finanziellen Konsolidierung vorschlagen. Dies wird ein schwieriges Unterfangen, zumal die Sozialpartner sehr unterschiedliche Ideen zur Finanzierung haben und die Regierung darüber hinaus verschiedene Optionen – keine Verteuerung der Arbeitskosten, keine Absenkung des Rentenniveaus – ausgeschlossen hat. Manche Beobachter sehen in dieser In-die-Pflichtnahme der Sozialpartner auch eine Falle.

Marine Le Pen profitiert

Denn, wenn die Sozialpartner keine einvernehmliche Lösung vorschlagen können, wird die Regierung wieder auf ihr Vorhaben, das Rentenalter anzuheben, zurückkommen und diese dann mit ihrer Mehrheit in der Nationalversammlung durchsetzen. Dies wäre auf den ersten Blick ein weiterer Erfolg des „Reformpräsidenten“ Macron – doch seine Wahrnehmung als sozial unsensibler „Präsident der Reichen“, für den die normalen Bürgerinnen und Bürger nicht zählen, würde damit nur gefestigt. Und dies könnte weitere Wählerschichten in die Arme Marine Le Pens treiben, die laut Umfragen ihren Rückstand gegenüber Macron in einer möglichen Stichwahl 2022 schon verkürzt hat.

Insgesamt wäre es aber vor allem statt des von Macron versprochenen Aufbruchs in eine „neue Welt“ ein Zeichen des Beharrens in der „alten Welt“ mit ihrer Kultur der Konfrontation. Und diese ist – so der ehemalige Senator und Europaabgeordnete der Sozialistischen Partei, Henri Weber - heute zu einem schwerwiegenden Handicap für unser Nachbarland geworden.

Autor*in
Thomas Manz

leitet das FES-Büro in Paris.

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