Rechtsextremismus: „Chemnitz hat das Fass zum Überlaufen gebracht.“
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Vor einigen Tagen haben sich die Ausschreitungen von Chemnitz zu zweiten Mal gejährt. Damals haben es Neonazis geschafft, ein breiteres Spektrum des Bürgertums hinter sich zu versammeln. Wo stehen wir heute?
Massive Fehler im Umgang mit den Ereignissen in Chemnitz haben den damaligen Bundeverfassungsschutzchef Maßen das Amt gekostet, sodass er nicht mehr seine schützende Hand über der AfD halten kann. Die Partei ist in den Blick des Geheimdienstes geraten und die Folgen schwächen die Partei bis heute. Chemnitz war keineswegs der erste Schulterschluss zwischen subkulturellen und bürgerlichen Rechtsradikalen, aber es brachte das Fass zum Überlaufen.
Heute sehen wir in der Coronakrise, dass auch Alternative, Hippies, Globalisierungskritiker und Impfgegner mit Nazis demonstrieren. Es ist Zeit, dass wir hinter oberflächliche Äußerlichkeiten auf die ideellen Gemeinsamkeiten und die rechtsextremen Fragmente schauen, die sich durch breite Teile der Bevölkerung ziehen und die den Verbindungskitt liefern, der dazu beiträgt, dass man die herrschende Politik offenbar schlimmer findet als den Schulterschluss mit Leuten, die die Shoa leugnen oder wiederholen wollen.
In Ihrem Buch „Deutschland rechts außen“ schreiben Sie: „Rechtsradikale suchen und finden immer auslösende Ereignisse, mit denen sie Menschen aufstacheln, Gewalt rechtfertigen und den Hass auf die Straße bringen.“ Warum sind sie damit in den letzten Jahren regelmäßig so erfolgreich?
Die Parlamentarisierung und die Digitalisierung des Rechtsradikalismus haben den Resonanzraum für diese Angstpolitik erheblich vergrößert. Darüber erreichen die Rechtsradikalen viele Menschen unmittelbar und mit einer anderen sozialen Legitimierung, als früher NPD und Co. Viele Bilder, Texte und Videos der Rechtsradikalen vermitteln ein absolutes Zerrbild der Bundesrepublik. Demnach seien Gesellschaft und Politik korrupt und wahnsinnig, gleichzeitig unfrei und anarchistisch, im Zerfall begriffen und durch innere und äußere Feinde in der Substanz bedroht, vor allem durch Migration, Feminismus, Gendervielfalt und Ökologie. Einzelne Ereignisse und Bilder, die zu diesen Claims passen, können dann die tiefer liegende und geschürte Wut abrufen und Handlungsdruck erzeugen. Allerdings gibt es Konjunkturen insbesondere der rassistischen Mobilisierungen wie schon Anfang der 1990er Jahre.
Warum hat die Politik dem so wenig entgegenzusetzen?
Eigentlich könnte sie dem viel entgegensetzen. Es mangelt nicht an gut begründeten Vorschlägen aus der Wissenschaft und aus der Zivilgesellschaft. Doch in Teilen der Politik fehlt nicht nur das Verständnis und der ernsthafte Wille: Die Probleme haben zumindest teilweise ihren Ursprung in der Politik. Derzeit erarbeitet erstmalig ein Bundeskabinett gegen Rassismus und Rechtsextremismus ein Handlungskonzept, welches wohl im Oktober vorgestellt wird. Daran wird sich messen lassen, ob die vielen Betroffenheitsappelle nur Show oder ernst gemeint waren. Und dann müssen auch die Länder nachziehen.
Als Sie Ihr Buch geschrieben haben, war von der Wahl Thomas Kemmerichs mit den Stimmen der AfD, den Anschlägen von Halle und Hanau und dem „Sturm auf den Reichstag“ noch nichts zu ahnen. Hätten Sie mit einer solchen Dynamik der Entwicklung gerechnet?
Ja und nein. Im Buch warne ich sowohl vor weiterem Rechtsterrorismus, vor der zentralen Bindekraft des Antisemitismus und vor der Gefahr neuer Radikalisierungen in einer kommenden Gesellschaftskrise, wobei ich vor allem an eine Wirtschaftskrise sowie an die sozial-ökologische Transformation gedacht habe und nicht an eine Viruspandemie. Das Buch wurde ja kurz vor den Landtagswahlen 2019 in drei ostdeutschen Bundesländern veröffentlicht und ich habe in Hinblick darauf davor gewarnt, dass echte Bürgerliche und Konservative sich nicht vor den Karren der radikalen Rechten spannen lassen sollten – schon im eigenen Interesse.
Insofern: Ja, solche Szenarien habe ich thematisiert. Ich habe aber auch gehofft, dass die Kraft der Argumente und demoskopischer Zahlen, wenn schon nicht eine ausgeprägte demokratische Kultur, CDU und FPD davon überzeugen, verstärkt auf Abgrenzung zu setzen und das schmutzige Spiel der Rechtsradikalen zu durchschauen. Am Ende war es in Thüringen wie schon so oft zuvor: Erst der zivilgesellschaftliche Druck, nicht zuletzt die großen Proteste auf den Straßen, haben geschafft, wo Verfassungsschutz, Demoskopen, Politikberater und Parteistrategen versagt haben: Schlimmeres zu verhindern.
Die AfD kann bisher nicht von den Coronaprotesten und der wirtschaftlich angespannten Situation profitieren. Überrascht Sie das?
Wieder ist die Antwort: Jain. Es überrascht mich, weil ich dachte, dass die Angst- und Empörungsmaschinerie der AfD und ihres Vorfeldes mittlerweile so stark und professionell ist, dass sie die Verunsicherungen leicht verstärken, lenken und mobilisieren könnte – vor allem im Netz. Zum Glück habe ich das wohl überschätzt. Stattdessen übernehmen informelle rechts- und verschwörungsideologische Personen und Kreise die Meinungsführerschaft und für manche der schrillen und umstürzlerischen Töne, die jetzt zu lesen und hören sind, gilt selbst die AfD bereits zu sehr zum Establishment.
Andererseits ist es nicht überraschend, dass die Rechtsaußenpartei eben nicht aus diffusen Verunsicherungen und materiellen Sorgen profitieren kann, weil ihr Kerngeschäft vor allem die Abschottung gegen Migration war und sie dabei, wie ich auch im Buch zeige, schon zuvor vorhandene rassistische und nationalistische Potentiale mobilisieren konnte. Es ist eben keine Protestpartei, die aus diffuser Verunsicherung gewählt wird, sondern eine rechtsradikale Partei, die mehrheitlich auch für ihre reaktionäre Programmatik gewählt wird, die aber keine klare Linie in der Pandemie anbietet.
Was können Politik und Gesellschaft tun, damit es so bleibt?
Sich nicht zu früh freuen: Vor uns liegen harte soziale und kulturelle Konflikte, etwa in der Klimakrise oder auch noch in Folge der Pandemie, wenn die sozialen Verwerfungen oder eine erneute Welle durchschlagen und der Staat, noch weniger Unternehmen, Haushalte oder auch der Staat aus Rücklagen zehren können. Für zukünftige Konflikte können wir aus der Pandemie politisch viel lernen. Wie schon in der Migrationsfrage zeigt sich, dass die lautesten Stimmen keineswegs automatisch die Mehrheit sind. Wir sollen auf die Schwächsten schauen und vor allem die Bildung stärken, um gerade die jungen Menschen gut zu wappnen: für echte Chancengleichheit in der Pandemie und danach sowie gegen Antisemitismus, Rassismus und Verschwörungsdenken.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.