Geschichte

Wie ein Putsch das chilenische Experiment brutal stoppte

Am 11. September 1973 riss in Chile das Militär die Macht an sich. Kein Putsch vorher oder nachher erregte weltweit derartige Abscheu. Bis heutet spaltet er die chilenische Gesellschaft. In der Linken führte er zu einem Strategiewechsel.
von · 11. September 2023
Der Feind steht rechts: Der Militärputsch in Chile trieb im September 1973 auch die Menschen in Deutschland (wie hier in Dortmund) auf die Straße.
Der Feind steht rechts: Der Militärputsch in Chile trieb im September 1973 auch die Menschen in Deutschland (wie hier in Dortmund) auf die Straße.

Fünf Tage waren seit dem Putsch der chilenischen Armee gegen die Regierung von Salvador Allende vergangen, als Willy Brandt am 16. September 1973 vor die UNO-Vollversammlung trat. Gerade waren die Bundesrepublik und die DDR den Vereinten Nationen beigetreten, der Bundeskanzler stellte nun sein Land und die Politik der Bundesregierung vor. Aber ganz konnte er die Ereignisse in Lateinamerikas Südwesten nicht übergehen: „So geht es nicht! Oder, wenn man so will: So geht es leider auch…“.

Der CDU-Generalsekretär verhöhnte die Opfer

Es war beileibe nicht die erste Militärdiktatur, die in Lateinamerika errichtet wurde, aber kein Putsch vorher oder nachher erregte weltweit derartige Abscheu. Der Versuch des linken Regierungsbündnisses „Unidad Popular“ („Volkseinheit“), auf demokratischem Wege eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, wurde brutal gestoppt – und vieles wies darauf hin, dass US-Präsident Nixon und sein Sicherheitsberater Henry Kissinger daran nicht unbeteiligt waren. Chiles Präsident starb bei der Verteidigung seines Amtssitzes gegen die Übermacht der Angreifer, deren Triumph über die rechtmäßige Regierung eine Welle von Verhaftungen und Morden an linken Politiker*innen und Sympathisant*innen der gestürzten Regierung einleitete. Das Nationalstadion in Santiago de Chile wurde zum Gefängnis und zur Folterzentrale. CDU-Generalsekretär Bruno Heck verhöhnte die Opfer, als er nach einem Besuch vor Ort erklärte: „Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm.“

Die Solidarität der deutschen Sozialdemokratie, von SPD und Friedrich-Ebert-Stiftung, mit den Verfolgten ließ nicht auf sich warten. Dabei hatte die Parteispitze dem chilenischen Experiment, das 1970 mit der Wahl von Salvador Allende zum Präsidenten begonnen hatte, skeptisch gegenübergestanden. Das Bündnis mit den Kommunisten, die hohe Geschwindigkeit beim sozialistischen Umbau des Landes, die enge Freundschaft Allendes mit Fidel Castro und nicht zuletzt die frühe Anerkennung der DDR durch die neue Regierung im März 1971, bevor noch die Verhandlungen Bonns mit Ostberlin über die Neugestaltung der Beziehungen abgeschlossen waren – all das waren für die Parteizentrale im Erich-Ollenhauer-Haus keine erfreulichen Botschaften gewesen. Als die Sozialistische Internationale für den Februar 1973 eine Sitzung ihrer Spitzengremien nach Chile einberufen wollte, um Allendes Kurs zu unterstützen, lehnte die SPD dies gerade deshalb ab, konnte sich aber nicht durchsetzen.

Unter den Mitgliedern der SPD und weit darüber hinaus in der westdeutschen Linken (mit Ausnahme der Maoisten) genoss die chilenische „Unidad Popular“ große Sympathie. Solidaritätskomitees entstanden an vielen Orten, es begann die Faszination für Lateinamerika.

„Ben Wisch“ setzte sich für Gefangene ein

Nach dem Putsch vom 11. September 1973 war auch an der Parteispitze von Distanz nichts mehr zu spüren. Hans-Jürgen Wischnewski, Mitglied des SPD-Präsidiums und Vorsitzender der Internationalen Kommission, flog mit der ersten verfügbaren Maschine nach Santiago de Chile und setzte sich gegenüber dem neuen Machthaber, General Pinochet, für die Freilassung politischer Häftlinge ein. Der Innenminister der Putschregierung bot dem Sozialdemokraten einen Passierschein an, damit er auch nach Beginn der Ausgangssperre um 20 Uhr das Hotel verlassen konnte. Die Soldaten hatten Befehl, auf jeden zu schießen, der sich danach noch auf der Straße befand. Wischnewski verzichtete auf das Papier, als der Minister seine Frage: „Herr General, auf wie viele Meter Entfernung wissen Ihre Soldaten, dass wir einen solchen Passierschein haben?“, mit einem Achselzucken beantwortete.

In der Botschaft der Bundesrepublik drängten sich 150 Verfolgte, die hier Schutz gesucht hatten. Wischnewski gelang es, deren Ausreise zu erwirken. Im Dezember trafen die ersten Flüchtlinge in der Bundesrepublik ein, einige Tausend folgten. Auch die DDR nahm chilenische Flüchtlinge auf, nicht nur Kommunist*innen. Michelle Bachelet, die später Chiles erste Präsidentin wurde, ist das bekannteste Beispiel. In der Bundesrepublik kümmerten sich SPD, die Friedrich-Ebert-Stiftung und viele örtliche Initiativen um die Ankömmlinge. Unter den Bundesministern war es besonders Hans Matthöfer, der sich für sie engagierte. Als er 1975 die Militärregierung als „Mörderbande“ bezeichnete, forderten CDU/CSU seine Entlassung als Forschungsminister. Bundeskanzler Helmut Schmidt wies dies zurück.

Der Putsch führt zu einer Debatte über den Weg zum Sozialismus

Das chilenische Experiment und sein Ende durch den Putsch, den anfänglich auch weite Teile der chilenischen Christdemokrat*innen begrüßt hatten, führte in der lateinamerikanischen Linken und in Westeuropa zu einer Debatte über den Weg zum Sozialismus. Allmählich dämmerte es vielen, dass es für die Umgestaltung der Gesellschaft nicht reicht, im Parlament eine Mehrheit zu erringen (was in Chile nicht einmal der Fall gewesen war) und Ministerposten zu besetzen. Enrico Berlinguer, der Chef der italienischen Eurokommunisten, brachte es auf die Formel, man brauche dafür mehr als 51 Prozent der Stimmen, es bedürfe einer gesellschaftlichen Hegemonie linker Ideen.

Unter den chilenischen Exilanten und in linken Parteien anderer lateinamerikanischer Länder setzte ein Prozess der Abkehr von radikalen Vorstellungen schneller Transformation ein; zu groß war die Gefahr, dass dies zu rechten Militärputschs mit Unterstützung der USA führen würde – wie in Chile. Der bisher als kompromisslerisch verachtete sozialdemokratische Weg der allmählichen Umgestaltung der Gesellschaft vermittels sukzessiver Reformen gewann an Attraktivität. Mehr und mehr Parteien des Subkontinents näherten sich der Sozialistischen Internationale an, an deren Spitze seit 1976 Willy Brandt stand.

In Chile dauerte es noch bis 1988/89, bis durch eine Volksabstimmung und folgende Neuwahlen die Diktatur von Augusto Pinochet beendet werden konnte. Aber bis heute spaltet die Haltung zum Putsch vom 11. September 1973 die chilenische Gesellschaft.

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