Eine Koalition zwischen Partito Democratico (PD) und Fünf Sternen (M5S)? Noch vor vier Wochen schien diese Idee in Italien völlig absurd. Insbesondere die Mitglieder und Politiker der PD selbst hätten sie weit von sich gewiesen. Doch jetzt steht die Koalition zwischen diesen beiden politischen Kräften, die einander bis gestern als Intimfeinde behandelten. Der Anti-Establishment-Formation des Movimento5Stelle (M5S – 5-Sterne-Bewegung) galt die PD als Inkarnation der zu bekämpfenden „politischen Kaste“. Und in den Augen der PD waren die Fünf Sterne eine den Bestand der Demokratie gefährdende Populistentruppe.
Große Schnittmegen von PD und M5S
Ausgerechnet diese beiden Kräfte wollen jetzt zusammen Italien regieren. Ministerpräsident bleibt Giuseppe Conte, der selbst parteilos ist. Lega-Chef Matteo Salvini, der durch sein Streben nach Neuwahlen diese Regierungsbildung überhaupt erst auf den Weg brachte, verkündete entsprechend bereits, die neue Regierung werde nur kurz bestehen. Lediglich die „Angst vor der Lega“ und die Gier nach Posten würde sie zusammenhalten.
Doch ein genauerer Blick in die Geschichte des M5S zeigt, dass die Schnittmenge mit der PD deutlich größer sein könnte als gemeinhin angenommen. Das M5S gehört keineswegs zu den klassischen rechtspopulistischen Bewegungen in Europa, es hat mit dem Rassemblement National, der AfD oder der FPÖ kaum Gemeinsamkeiten.
Im Gegenteil: Die Fünf Sterne entsprangen der Absicht ihres Gründers, des Komikers Beppe Grillo, auf das italienische Mitte-Links-Lager Einfluss zu nehmen – vorneweg auf die PD. Grillo gründete im Jahr 2005 zunächst einen Blog, der umweltpolitische Themen sowie den Kampf für eine korruptionsfreie Politik in den Mittelpunkt stellte. Damit zielte er insbesondere auf Silvio Berlusconi, der in den Jahren 2001-2006 und 2008-2011 Italien regierte. Grillo suchte damals systematisch das Gespräch mit dem Mitte-Links-Lager. Im Juni 2006 wurde er mit 1,5 Millionen Unterschriften unter der Forderung nach einer ökologischen Wende beim damaligen Ministerpräsidenten Romano Prodi vorstellig. Später beschwerte er sich, Prodi sei bei diesem Gespräch „eingeschlafen“.
M5S.Gründer Grillo wollte selbst mal der PD beitreten
Im September 2007 dann organisierte Grillo den „Vaffa day“ (den „Schert-euch-zum-Teufel-Tag“) mit Kundgebungen im ganzen Land, auf denen Unterschriften für ein Gesetzesvolksbegehren gesammelt wurden. Zentrales Anliegen war es, vorbestraften Politikern die Kandidatur fürs Parlament zu untersagen, die Höchstdauer für parlamentarische Mandate auf zwei Legislaturperioden zu beschränken und bei Wahlen ein System der Präferenzstimmen auf den Parteilisten einzuführen. Binnen eines Tages konnten 330.000 Unterschriften gesammelt werden – auch sie waren Unterschriften vor allem gegen die Berlusconi-Rechte. Grillo war zum Sprachrohr hunderttausender unzufriedener Bürgerinnen und Bürger geworden.
Seine Bewegung entstand zunächst auf lokaler Ebene; bei Kommunalwahlen traten „Listen der Freunde Beppe Grillos“ an. Zu jenem Zeitpunkt gab es noch nicht das Vorhaben, sich als nationale politische Kraft zu organisieren.
Grillo bemühte sich im Jahr 2009 gar selbst um eine Kandidatur bei den Urwahlen des neuen Parteichefs der PD und trat aus diesem Grund in die Partei ein. Dieses Ansinnen wurde jedoch von der Partei abgelehnt. Piero Fassino, einer der führenden PD-Politiker, sagte damals, wenn Grillo Politik machen wolle, solle er doch eine Bewegung gründen – „dann sehen wir, wie viele Stimmen er erhält“.
Wofür die M5S steht
Grillo nahm Fassino beim Wort; er gründete noch im Herbst 2009 das M5S. Die Bewegung steht programmatisch auf zwei Beinen. Einerseits hat sie eine starke ökologische Komponente: Die Fünf Sterne stehen für öffentliche Wasserversorgung, Umweltschutz und radikale Müllvermeidung, die Stärkung öffentlicher Verkehrsmittel, eine Energiepolitik zugunsten Erneuerbarer Energien und gesteigerter Energieeffizienz sowie den Ausbau des Internets.
Es war jedoch die zweite programmatische Achse, die den Gegensatz zur PD begründete: der Kampf gegen die „politische Kaste“. Das M5S ging weit darüber hinaus, die Verbannung von Korruption und Klientelismus aus der Politik zu fordern. Es theoretisierte nunmehr die Utopie einer direkten Demokratie ohne Parteien, in der die Bürgerinnen und Bürger über das Internet die Entscheidungsbildung selbst in die Hand nehmen.
Darüber ging beim M5S die bis dato gepflegte Unterscheidung zwischen dem rechten Berlusconi-Lager und der gemäßigt linken PD verloren. Nun waren sie alle „Altparteien“, in denen „Mumien“ den Ton angaben. Die Reaktion der PD fiel ebenfalls scharf aus: Sie erhob das M5S in den Rang einer mehr oder minder verfassungsfeindlichen Kraft.
M5S: „weder rechts noch links“
Dennoch gab es in den folgenden Jahren immer wieder Momente, in denen eine Annäherung möglich gewesen wäre. Im Jahr 2013 erlebte das M5S bei den Parlamentswahlen mit 25,9 Prozent einen sensationellen Durchbruch. Die PD hatte ebenfalls 25 Prozent erzielt, verfügte aber unter ihrem damaligen Vorsitzenden Pierluigi Bersani nicht über eine eigene parlamentarische Mehrheit. Bersani bot daraufhin dem M5S Gespräche an, musste sich von deren Vertretern aber in einem öffentlich übertragenen Treffen demütigen lassen. Das M5S vertrat seinerzeit die radikale Position, keinerlei Koalitionen eingehen zu wollen. Stattdessen wurde mittelfristig eine eigene Mehrheit angestrebt, um Italien umzugestalten.
Nur wenige Wochen nach den Parlamentswahlen stand die Wahl des Staatspräsidenten (durch das Parlament) an. Das M5S – das sich als „weder rechts noch links“ bezeichnete – legte den eigenen Mitgliedern eine Liste von zehn Kandidaten zur Auswahl vor. Die Überraschung: Auf ihr figurierten ausschließlich Linke, unter ihnen der hoch angesehene Verfassungsrechtler Stefano Rodotà, der am Ende vom M5S aufgestellt wurde. Doch jetzt verweigerte die PD jegliche Unterstützung, obwohl Grillo in einer überraschenden Volte erklärt hatte, diese könne eine neue Ära zwischen den beiden politischen Kräften öffnen.
Renzi setzte auf Totalkonfrontation
Eine neue Ära war dann spätestens 2014 ausgeschlossen, als Matteo Renzi zum Vorsitzenden der PD und anschließend zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Renzi setzte auf Totalkonfrontation mit den Fünf Sternen. Dennoch legte das M5S im Jahr 2015, als die Neuwahl des Staatspräsidenten anstand, den Mitgliedern erneut eine Neunerliste vor, auf der mit dem PD-Gründer und ehemaligen Ministerpräsidenten Romano Prodi und mit Pierluigi Bersani gleich zwei Politiker der „verfeindeten“ Partei standen. Prodi platzierte sich bei dem internen Basisvotum mit 20 Prozent an zweiter Stelle, Bersani wurde mit 11 Prozent vierter.
Alle diese Signale gingen jedoch in der täglichen Polemik unter und wurden öffentlich kaum wahrgenommen. Erneut lud sich die Konfrontation im Jahr 2016 auf, als Renzi sowohl eine Verfassungs- als auch eine Wahlrechtsreform vorantrieb. Das M5S stellte sich an die Spitze der Bewegung gegen die Reformen und trug dazu bei, dass Renzi in der Volksabstimmung vom Dezember 2016 eine herbe Niederlage erlitt.
Die Wahlen vom März 2018 führten zum Triumph des M5S, das 32,7 Prozent holte, während die PD auf 18,7 Prozent abstürzte. Renzi trat daraufhin als Parteichef zurück, hatte aber weiterhin die Mehrheit der PD-Fraktionen in Abgeordnetenhaus und Senat hinter sich.
Streit in der PD über den Umgang mit M5S
Das M5S unter seinem Chef Luigi Di Maio tat als Wahlsieger nun spiegelbildlich das, was die PD im Jahr 2013 unternommen hatte: Es trat auf die PD mit einem Koalitionsangebot zu. Dieses wurde jedoch von Renzi – obwohl er gerade als Parteichef zurückgetreten war – rüde ausgeschlagen. Erst daraufhin kam es zur Bildung der Koalition zwischen M5S und rechtspopulistischer Lega.
Renzis Kalkül war es, dass das „Bündnis der Populisten“ sich an der Macht schnell selbst entzaubern werde. Dieses Kalkül ging jedoch in keiner Weise auf. Die neue Regierung blieb während ihrer gesamten Amtszeit ungebrochen populär, die Zustimmungswerte für die beiden sie tragenden Parteien verharrten in der Summe konstant über 50 Prozent. Allerdings drehten sich binnen eines Jahres die Kräfteverhältnisse in der Koalition komplett um. Das M5S sackte bei den Europawahlen vom Mai 2019 auf 17 Prozent ab, die Lega unter Matteo Salvini dagegen konnte ihren Stimmanteil von 17 auf 34 Prozent verdoppeln.
Während Salvini seinen scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg vollzog, fuhr die PD fort, das M5S als zentralen Gegner zu behandeln. Erst die neue Parteiführung unter dem im März 2019 in einer offenen Urwahl gewählten Nicola Zingaretti rückte vorsichtig von dieser Linie ab. Auch Zingaretti schloss allerdings jede Möglichkeit einer Koalition mit dem M5S aus. Stattdessen wollte er „das Gespräch mit den Wählern der Fünf Sterne“ suchen. Renzi als sein innerparteilicher Gegenspieler wiederum drohte Zingaretti offen mit Parteispaltung, sollte die PD Annäherungsversuche an das M5S unternehmen.
Es muss nicht bei einer Negativkoalition bleiben
Vor diesem Hintergrund schien in der am 8. August von Salvinis Lega ausgelösten Regierungskrise nur ein Weg offen: der zu Neuwahlen. Es war dann ausgerechnet Renzi, der angesichts eines drohenden Erdrutschsiegs für Salvini die Initiative ergriff. Er forderte seine Partei auf, eine Regierung mit dem M5S zu bilden. Und auf der anderen Seite lancierte Fünf-Sterne-Gründer Grillo den Appell, die „neuen Barbaren“ der Lega zu stoppen: „Von wegen Neuwahlen!“
Damit war der Boden bereitet für die neue Koalition, die man als echtes politisches Wunder bezeichnen muss, die sich aber natürlich vorderhand als reine Negativkoalition darstellt, zusammengehalten von der Angst vor Salvinis Sieg und einer radikalen Rechtswende Italiens.
Doch in den Koalitionsverhandlungen schälte sich ein Befund heraus, der eigentlich so überraschend nicht ist: Zwischen M5S und PD sind die programmatischen Schnittmengen größer, als sie es zwischen M5S und Lega waren. Ob in der Sozial- oder der Steuerpolitik, der Haltung zu Europa, der Bildungs- oder Innovationspolitik: Beide Seiten entdeckten Gemeinsamkeiten, die sie über Jahre geflissentlich ignoriert haben.
Grillo ließ sich gar dazu hinreißen, von den Anhängern der jetzt koalierenden Kräfte "Euphorie" angesichts des neuen Bündnisses zu fordern. In der PD wiederum setzte sofort die Debatte ein, ob man mit dem M5S nicht bei den in den nächsten Monaten anstehenden Wahlen in diversen Regionen gleich Wahlbündnisse schließen solle, um die Rechte zu schlagen. Diese Signale wirken ein wenig überstürzt, doch sie zeigen: Bei einer Negativkoalition muss es nicht bleiben, wenn die beiden Allianzpartner wirklich aus ihren Schützengräben steigen.
Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.