Paul Löbe: Ein Sozialdemokrat, der Parlamentsgeschichte schrieb
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Im Frühjahr 1895 begeht ein 19-jähriger Proletarier ein zünftiges Sakrileg: Nach Abschluss seiner Lehrzeit im Verlagshaus Heinrich Krumbhaar im niederschlesischen Liegnitz verweigert der Schriftsetzer Paul Löbe das „Gautschen“, also die zunftgemäße Taufe in einer Zinkwanne, die er mir ein paar Runden Bier bezahlen soll. Dafür will der junge Mann seine ersparten Silberlinge nicht ausgeben, denn schon als Kind hat er gelernt, mit dem Haushaltsgeld sparsam umzugehen.
Paul Löbe wird am 14. Dezember 1875 als erstes Kind eines Tischlergesellen und einer Küchenhilfe in Liegnitz geboren. „Wir sahen Vater und Mutter in schwerer Arbeit bis in die Nacht hinein sich mühen und mussten erkennen, dass all ihr Fleiß und ihre Ausdauer doch die Sorgen nicht verscheuchten“, erinnert sich Paul Löbe Jahrzehnte später und sieht diese Eindrücke als Impulse für seine Politisierung.
Karrierestart in der SPD-Zeitung
Trotz aller Sparsamkeit kommt der junge Mann um das „Gautschen“ nicht herum. Nach seiner Wanderschaft durch Südeuropa wird Löbe Setzer beim „Staatsanzeiger“ im anhaltischen Dessau und muss dort in die Wanne. In Dessau tritt Paul Löbe der SPD bei und zeichnet sich bald als wortgewandter und geschickter Debattenredner aus. 1898 gründet er mit Glasbläsern und Handschuhmachern den Ortsverein im thüringischen Ilmenau und organisiert erfolgreich den Wahlkampf von August Baudert für das Reichstagsmandat im Wahlkreis Weimar-Apolda.
Die Thüringer SPD bietet ihm daraufhin die Redaktion des „Saalfelder Volksblattes“ an. Paul Löbe muss das Angebot leider ablehnen. Weil sein Vater an Schwindsucht erkrankt ist geht er nach Niederschlesien zurück. Vier Monate lang arbeitet er als Schriftsetzer bei der „Breslauer Volkswacht“, dann wird er in die Redaktion dieses wichtigen Parteiblatts berufen.
Wegen „Majestätsbeleidigung“ ein Jahr Einzelhaft
Als Paul Löbe am 1. Januar 1899 seine Stelle antritt, klebt auf seinem Schreibtisch eine Scheibe trockenen Brotes, ein Hinweis darauf, dass er sich alsbald auf Gefängnisstrafen einrichten muss. Zweimal verbringt Paul Löbe längere Zeit hinter Gittern. Weil er in der „Volkswacht“ die Reform des Dreiklassenwahlrechts fordert, wird er wegen „Majestätsbeleidigung“ zu einem Jahr Einzelhaft verurteilt, die er im Gefängnis in Wohlau absitzen muss. Das erweist sich als „Glücksfall“, denn Paul Löbe kann sich mit Hilfe des liberalen Gefängnisdirektors fortbilden.
1905 macht Paul Löbe die Bekanntschaft von russischen Sozialdemokraten, die nach der gescheiterten Revolution von 1905 die „Breslauer Volkswacht“ als Postadresse benutzen. Lenin kommt höchstpersönlich, um die Post abzuholen, die ihm Paul Löbe aushändigt. Ein „Revoluzzer“ wird der linke Löbe dennoch nicht.
Ein Mann des Ausgleich
Als Vorsitzender der Breslauer Parteiorganisation gelingt ihm 1902 das Kunststück, den „Revisionisten“ Eduard Bernstein als Reichstagsabgeordneten durchzusetzen und gleichzeitig August Bebel als Hauptredner für Wahlkampfkundgebungen zu verpflichten. Löbe erweist sich so bereits in jungen Jahren als Meister des Ausgleichs. Die „Breslauer Volkswacht“ bleibt unter Löbes Ägide dennoch stramm links und wendet sich gegen die „Burgfriedenpolitik“ der Mutterpartei. So fordert das Blatt mitten im 1. Weltkrieg die Abdankung Kaiser Wilhelms.
Paul Löbes politisches Wirken bleibt nicht auf die „Volkswacht“ beschränkt. Von 1904 bis 1919 ist er Breslauer Stadtverordneter und 1915 zieht er als Abgeordneter in den Provinziallandtag von Schlesien ein. Obwohl er nicht zum inneren Führungszirkel der Partei gehört, ist Paul Löbe ein politisches „Schwergewicht“, aber er weiß seine Fähigkeiten realistisch einzuschätzen. So lehnt er 1918 das Angebot ab, Reichsminister zu werden. Ein Jahr später wird er im Wahlkreis Breslau in die Weimarer Nationalversammlung gewählt und amtiert als einer der Vizepräsidenten. 1920 zieht Paul Löbe als Abgeordneter in den Reichstag ein und wird zum Präsidenten des „Hohen Hauses“ gewählt. Dieses Amt ist dem Mann des Ausgleichs auf den Leib geschrieben.
Reichspräsident Löbe? Beinahe!
Nach dem Tode Friedrich Eberts trägt die SPD Paul Löbe die Kandidatur für die Reichspräsidentschaft an. „Auf diesen Platz gehörte ein Mann von härterem Holze, als ich es war“, bekannte Löbe später. Die Kandidatur übernimmt der Sozialdemokrat Otto Braun, der Ministerpräsident Preußens. Der verliert jedoch gegen den erzreaktionären Paul von Hindenburg. Paul Löbe fällt als Reichstagspräsident die Aufgabe zu, Hindenburg zu vereidigen. Dazu bedient er sich eines Tricks. Um Tumulte im Parlament auszuschließen, führt Löbe die Vereidigung vor dem Reichstagsgebäude durch. Zuvor hatte er die kommunistischen Abgeordneten Walter Stöcker und Ernst Torgler zu sich bestellt und ihnen eröffnet, dass sie vor den Parlamentstüren keine Immunität genössen.
Als Reichstagspräsident übt sich Paul Löbe im Parlament rhetorischer Zurückhaltung. Nur zweimal trägt er sich während seiner 12-jährigen Amtszeit in die Rednerliste ein, einmal um Asyl für den sowjetischen Revolutionär Leo Trotzki zu fordern. Damit stößt er auf den entschiedenen Widerstand von Außenminister Gustav Stresemann.
Unauffällig im Widerstand gegen die Nazis
Als die NSDAP 1932 stärkste Partei im Reichstag wird, rückt Hermann Göring nach parlamentarischer Gepflogenheit auf Paul Löbes „Stammplatz“. Nach der „Machtübertragung“ weigert sich Paul Löbe, ins Exil zu gehen und setzt stattdessen auf Kompromisse mit der Hitler-Regierung. Ende Juni 1933 verhaften die Nazis den Mann des Ausgleichs. Die Haft muss er zum Teil im KZ Breslau-Dürrgoy verbringen.
Nach seiner Freilassung mit der Auflage, politisch abstinent zu sein, arbeitet Paul Löbe als Lektor im Verlag Walter de Gruyter. Seine politischen Kontakte pflegt Paul Löbe privat weiter, auch zu den Akteuren des „Kreisauer Kreises“. Aber er fällt nicht auf, obwohl er im Falle eines gelungenen Staatsstreiches wieder als Reichstagspräsident vorgesehen ist.
Im KZ Groß-Rosen
Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 wird Paul Löbe im Rahmen der „Aktion Gitter“ verhaftet und im KZ Groß-Rosen eingesperrt. Nach der Zerschlagung Nazi-Deutschlands flieht Paul Löbe aus Schlesien und beteiligt sich im zerstörten Berlin am Wiederaufbau der SPD. Obwohl ihn die sowjetische Verwaltung mit materiellen Vorzügen lockt, beteiligt sich Löbe nicht an der Vereinigung der Partei mit der KPD und geht in die Westsektoren.
Noch einmal betritt Paul Löbe die große politische Bühne. Am 7. September 1949 hält er als „Alterspräsident“ die Eröffnungsrede des ersten Deutschen Bundestages und bezeichnet den Widerstand gegen Hitler als „patriotischen Akt“. Das erregt viele Gemüter. Paul Löbe sollte mit diesem Bekenntnis ein Platz in den Geschichtsbüchern sicher sein. Der „ewige Reichstagspräsident“ stirbt am 3. August 1967 in Bonn.