Meinung

Parität: Wie die Wahlrechtsreform den Bundestag weiblicher machen kann

Im Juli hat das Thüringer Verfassungsgericht das dortige Paritätsgesetz für nichtig erklärt. Einer paritätischen Wahlrechtsreform auf Bundesebene widerspricht das nicht. Künftig sollte bei der Bundestagswahl jede*r drei Stimmen haben.
von Cansel Kiziltepe · 19. August 2020
Historisch schlecht repräsentiert: Bei der Feierstunde zu 100. Jahren Frauenwahlrecht am 17. Januar 2019 demonstrieren die weiblichen Bundestagsabgeordneten mit weißen Oberteilen für mehr Frauen im Bundestag.
Historisch schlecht repräsentiert: Bei der Feierstunde zu 100. Jahren Frauenwahlrecht am 17. Januar 2019 demonstrieren die weiblichen Bundestagsabgeordneten mit weißen Oberteilen für mehr Frauen im Bundestag.

Die Diskussion um die Wahlrechtsreform auf Bundesebene war aufgrund der Corona-Pandemie zeitweise verstummt, hat aber nicht an Dringlichkeit verloren. Im Gegenteil, die Zeit drängt, wenn bis zur nächsten Bundestagswahl ein Wahlrecht geschaffen werden soll, das mehr Frauen ins Parlament bringt und zugleich einen noch größeren Bundestag verhindert.

Der Frauenanteil im Bundestag hat einen historischen Tiefstand erreicht. Die Bundestagswahl 2017 hat zum schwächsten Frauenanteil im neuen Jahrtausend geführt. Der geringere Anteil an Frauen im Deutschen Bundestag zeigt: Parteiinterne Quoten und freiwillige Selbstverpflichtungen weniger Parteien reichen nicht aus. Vielmehr brauchen wir gesetzliche Regelungen im Wahlrecht, die die verfassungswidrige Unterrepräsentation von Frauen im Parlament beenden.

Wir brauchen eine paritätische Wahlrechtsreform

Eine allgemeine Wahlrechtsreform soll den Bundestag verkleinern und die Funktionsfähigkeit unserer parlamentarischen Demokratie garantieren. Auf diese Zielsetzung können sich alle demokratischen Fraktionen im Bundestag einigen. Der Weg dorthin ist jedoch umstritten. Die Debatten der vergangenen Jahre – insbesondere nach der Wahl 2017 – lehren eines: Wir brauchen gleichzeitig eine umfassende und paritätische Reform.

Im vergangenen Jahr haben wir landauf landab 100 Jahre Frauenwahlrecht gefeiert. Brandenburg und Thüringen haben die ersten Paritätsgesetze beschlossen. Zu unserer Demokratie gehört nämlich auch, dass alle Geschlechter gleichermaßen die Chance haben, nominiert und gewählt zu werden. Das Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs vom 15. Juli zur Nichtigkeit des Thüringer Paritätsgesetzes steht einer paritätischen Wahlrechtsreform in Deutschland nicht entgegen. Denn das Urteil verstößt gegen das Grundgesetz. Es missachtet Art. 3 Abs. 2 unseres Grundgesetzes.

Danach ist der Staat nicht nur berechtigt, sondern sogar aufgefordert, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen zu fördern und durchzusetzen. Wo die Gleichberechtigung noch nicht verwirklicht ist, muss der Staat sie durchsetzen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Entscheidungen bereits klargestellt. Dazu gehört auch, für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an der Entscheidungsfindung in den Parlamenten zu sorgen. Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes gilt in der gesamten Bundesrepublik, auch in Thüringen. Eine Klarstellung durch das Bundesverfassungsgericht scheint aber notwendig. Denn auch in Thüringen und Brandenburg gilt das Grundgesetz.

Keine Übergangsregelung ohne Parität

Damit der Bundestag bei der nächsten Wahl nicht noch größer wird und nicht noch weniger Frauen im Parlament sitzen, hat die SPD-Bundestagsfraktion eine Übergangslösung vorgelegt, die beide Probleme angeht: eine Mandatsobergrenze und die paritätische Besetzung der Landeslisten. Denn es darf auch keine Übergangsregelung ohne Parität geben. Dieser äußerst pragmatische Vorschlag ist nur für die Bundestagswahl im kommenden Jahr gedacht. Für eine nachhaltige und vollständig paritätische Reform über das Jahr 2021 hinaus brauchen wir jedoch mehr.

Die umfassende Wahlrechtsreform wird vielen eher wie eine Revolution vorkommen. Dabei bleibt es beim bewährten personalisierten Verhältniswahlrecht: Eine kleinere Anzahl an Wahlkreisen und eine Besetzung mit Abgeordneten-Duos macht den Bundestag nicht nur kleiner, sondern auch weiblicher. Unser künftiges Wahlrecht sollte daher drei Stimmen haben. Je eine Wahlkreisstimme für eine Frau und einen Mann. Gleichzeitig muss die Anzahl der Wahlkreise massiv schrumpfen, von aktuell 299 auf 100. Somit würden künftig 100 direkt gewählte Frauen und 100 direkt gewählte Männer die Wahlkreise im Deutschen Bundestag vertreten. Das Wahlergebnis wird auch künftig nach dem Stimmenanteil der Listenmandate abgebildet – künftig eben mit der Drittstimme.

Im Tandem zur Parität?

An der allgemein akzeptierten Gesamtgröße des Bundestags mit 598 Abgeordneten wird ebenfalls festgehalten und die paritätisch besetzten Listen beseitigen nicht nur verfassungswidrige Zustände, sondern stellen sicher, dass Frauen nicht nur wählen, sondern auch gewählt werden. Mit dieser einfachen, umfassenden und paritätischen Wahlrechtsreform könnten die existierenden Probleme, geringer Frauenanteil bei Rekordgröße, gelöst werden. Die verfassungswidrige Unterrepräsentation von Frauen könnte auch mit einem Modell beseitigt werden, bei dem ein Tandem aus einer Frau und einem Mann gemeinsam als Team mit einer Stimme gewählt wird.

Sollte es keinen gemeinsamen Vorschlag der Koalition in dieser Frage geben, wäre eine Abstimmung jenseits der Fraktionsdisziplin wünschenswert. Bis dahin haben dann hoffentlich alle Abgeordneten das kleine Einmaleins des paritätischen Wahlrechts gelernt. Denn diese Rechnung ist denkbar einfach: 1,2,3 Stimmen, 100 Wahlkreise, 598 Abgeordnete.

Autor*in
Cansel Kiziltepe
Cansel Kiziltepe

ist Senatorin für Arbeit und Soziales in Berlin sowie Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeit (AfA) der SPD.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare