Inland

Warum es ohne betriebliche Mitbestimmung keine starke Demokratie gibt

Am 14. November 1952 trat das Betriebsverfassungsgesetz in Kraft. „70 Jahre gelebte Demokratie in der Arbeitswelt“, sagt DGB-Chefin Fahimi. Bundeskanzler Scholz verspricht es weiterzuentwickeln. Die Gewerkschaften haben eine klare Vorstellung wie.
von Vera Rosigkeit · 10. November 2022
Fahimi und ScholzBettina Kohlrauch, Dirketorin des WSI, DGB-Chefin Yasmin Fahimi, Bundeskanzler Olaf Scholz und Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung beim Festakt zu 70 Jahren Betriebsverfassungsgesetz
Fahimi und ScholzBettina Kohlrauch, Dirketorin des WSI, DGB-Chefin Yasmin Fahimi, Bundeskanzler Olaf Scholz und Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung beim Festakt zu 70 Jahren Betriebsverfassungsgesetz

Jede sechste Betriebsratsgründung in Deutschland wird behindert. Serdal Sardas, der erste Betriebsratsvorsitzende im Amazon-Verteilzentrum am Standort Wunstorf in Brandenburg glaubt, dass der Anteil in amerikanischen Unternehmen noch deutlich höher liegt. Hier sei es eher die Regel, Wahlen zum Betriebsrat aufzuhalten oder sie im Nachhinein anzufechten, sagt er. Dabei sei die erste Betriebsratswahl in seinem Unternehmen für viele seiner Kolleginnen und Kollegen „die erste demokratische Wahl überhaupt gewesen, weil sie einen Geflüchteten-Background haben“, berichtet er. Es sei nicht nur darum gegangen, einen Betriebsrat zu wählen: „Wir haben den Kolleginnen und Kollegen einen Einstieg in die Demokratie gegeben.“ Die Last war schwer, sagt Sardas und nur mit Unterstützung der Gewerkschaft verdi zu tragen gewesen. Die Gewerkschaftssekretär*innen, auf den Konzern Amazon spezialisiert, „konnte ich Tag und Nacht erreichen“.

Fahimi: Quantensprung unter Willy Brandt

70 Jahre wird das Gesetz zur Mitbestimmung in den Betrieben dieser Tage alt. „70 Jahre gelebte Demokratie in der Arbeitswelt“, sagt DGB-Chefin Yasmin Fahimi beim Festakt „Demokratie in Arbeit“ der Hans-Böckler-Stiftung zum Jubiläum Anfang November in Berlin. „Betriebliche Mitbestimmung, die Vertretung der Beschäftigten in den Aufsichtsräten und starke Tarifverträge prägen das Modell Deutschland.“ Ein Modell, so Fahimi, dass ursprünglich nur ein historischer Kompromiss war. Der DGB wollte die Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung im Aufsichtsrat, habe von der Regierung Adenauer aber nur eine Drittelbeteiligung erhalten und „die zu dieser Zeit eher fragwürdige Institution des Betriebsrats“.

Einen „Quantensprung“ habe das Betriebsratsrecht erst 1972 mit seiner Novellierung unter Bundeskanzler Willy Brandt gemacht. Es ist zum Erfolgsprojekt geworden, „nicht nur für den DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften – auch für Politik und Gesellschaft insgesamt“. Doch um die aktuellen Herausforderungen der Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft zu bewältigen, brauche es neue Instrumente. Denn gelingen könne sie nur, „wenn sie auf dem Auge sozialer Nachhaltigkeit nicht blind bleibt“.

Scholz: Mitbestimmung gehört zur DNA unserer Marktwirtschaft

Deshalb fordert Fahimi für Betriebsräte ein echtes Initiativ- und Mitbestimmungsrecht bei Maßnahmen etwa für den Klima- und Umweltschutz. Ein beteiligungsorientiertes Vorgehen müsse aber auch beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz möglich sein, um die Potenziale der Technologien für die Humanisierung der Arbeit zu nutzen, erklärt sie. Und um Mitbestimmung in Zeiten mobiler Arbeit und Homeoffice zu organisieren, brauche es ein digitales Zugangsrecht. Von der Bundesregierung erwartet die DGB-Vorsitzende, dass sie ihr Vorhaben, Betriebsratsbehinderungen als ein so genanntes Offizialdelikt zu ahnden, schnell umsetze. Alle, die sich für Demokratie im Betrieb engagieren, müssen „besser geschützt werden“.

Beim Festredner und Bundeskanzler Olaf Scholz trifft sie damit auf offene Ohren. Die Behinderung demokratischer Mitbestimmung soll künftig ohne Strafantrag verfolgt werden können, denn „Behinderung darf nicht sein“, betont Scholz: „Die Mitbestimmung gehört zur DNA unserer sozialen Marktwirtschaft.“ Auch er ist überzeugt, dass die Transformation nur gelingen kann, wenn Betriebsräte mit am Tisch säßen und mitreden könnten. „Sie sind die Fachleute.“

Kohlrausch: Demokratie leben auf der Arbeit

Die Forderung nach einem digitalen Zugangsrecht für Gewerkschaften greift er unmittelbar auf. „Betriebsräte sollen selbst entscheiden, ob sie analog oder digital arbeiten.“ Scholz verspricht, Betriebsräte und ihre Arbeit weiter zu stärken und das Betriebsverfassungsgesetz weiterzuentwickeln. Denn eine Gesellschaft, die vor so großen Herausforderungen stehe, brauche Zusammenhalt, sagt er. Für ihn sei das eine Frage des Respekts. Respekt und Zusammenhalt seien aber immer auch „die Leitplanken der Mitbestimmung in Deutschland“ gewesen, betont Scholz. Die betriebliche Mitbestimmung sei für ihn ein Ausdruck gelebter Demokratie.

In welchem Ausmaß Menschen Demokratie leben und erleben können, hängt für die Soziologin Bettina Kohlrauch auch davon ab, unter welchen Bedingungen sie arbeiten. Es reiche eben nicht aus, irgendeinen Job zu haben, sagt die Direktorin des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung. Erwerbstätige brauchen Anerkennung, die durch Rechte in der Arbeit garantiert werden. Es gehe darum, ihnen echte Entscheidungsgewalt an dem Ort zu geben, an dem sie einen Großteil ihrer Lebenszeit verbringen, nämlich auf der Arbeit. Menschen mit diesen Rechten sind laut Kohlrausch „besser integriert“ und neigen weniger zu anti-demokratischen Einstellungen. Ihrer Meinung nach gehe es bei der Garantie betrieblicher Mitbestimmungsrechte um „die Glaubwürdigkeit der Demokratie als Ganzes“.

Forderung: Eine Demokratiestunde pro Woche im Betrieb

Doch Demokratie in Arbeit praktizieren, macht auch Arbeit ­und die beansprucht Zeit. Auf diesen Aspekt geht Lucie Wähler, Vertreterin von Azubis4future, ein. Die Gartenlandschaftsbauerin im zweiten Lehrjahr greift einen Vorschlag Fahimis auf: die Forderung nach einer „Demokratiezeit“. Danach sollen Beschäftigte eine Stunde in der Woche freigestellt sein, um sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen über betriebliche und gesellschaftliche Themen auszutauschen. „Auch wir fordern mehr Zeit für unser soziales Engagement“, erklärt Wähler. Azubis4future habe sich 2019 als Teil der Fridays4Future-Bewegung gegründet, um den Auszubildenden in der Klimabewegung eine eigene Stimme zu geben. Es gehe eben nicht nur darum, für CO2-freie, grüne Unternehmen zu kämpfen, sondern auch für faire Löhne, gute Arbeitsbedingungen und eine Ausbildungsumlage. „Wir sind die Arbeiter*innengenaration von morgen und können Zukunft verändern“, sagt Wähler. Doch soziales Engagement brauche Zeit. Eine Demokratiestunde pro Woche wäre ein Anfang.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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