Nobelpreis-Rede: Wie sich Willy Brandt Europa vorstellte
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Als sich am 10. Dezember 1971 das Nobelpreiskommittee in Oslo versammelte, um Willy Brandt mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen, war die Welt alles andere als friedlich. Der Vietnamkrieg tobte bereits seit 16 Jahren. Der dritte indisch-pakistanische Krieg endete nach einem Dreivierteljahr einige Tage später.
Immerhin in Deutschland gab es positive Nachrichten: Am 3. September hatten die USA, Russland, Frankreich und Großbritannien das Viermächteabkommen über Berlin unterzeichnet. Am 17. Dezember sollten die Bundesrepublik und die DDR das Transitabkommen zwischen beiden Ländern unterzeichnen.
„Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein.“
Bereits im Oktober hatte das Nobelpreiskommittee mitgeteilt, dass der Friedesnobelpreis an Willy Brandt für seine Ostpolitik verliehen würde. Nachdem er am 10. Dezember, dem am Todestag Alfred Nobels, in der Aula der Osloer Universität ausgeichnet worden war, trat der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland einen Tag später an derselben Stelle erneut ans Mikrofon, um seine „Nobel Lecture“ zu halten. „Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein“, stellte Brandt gleich zu Beginn klar. „Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen.“ Dafür genüge es nicht, „friedfertige Absichten zu bekunden“, Politiker müssten sich vielmehr „aktiv um die Organisation des Friedens bemühen“.
In seiner Rede zog Brandt eine Bilanz der vergangenen 25 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. „Der Ost-West-Konflikt – dessen Ursachen im wesentlichen nicht im Westen lagen – hat viele Kräfte gebunden“, lautete Brandts Fazit. Als positiv bewertete er die Standhaftigkeit der westlichen Alliierten in schwierigen Situationen wie bei der Berlin-Blockade von 1948 bis 1949 und der Berlin-Krise 1958. „Hätte sich der Westen aus meiner Stadt vertreiben lassen, wäre das nicht nur ein Unglück für die unmittelbar betroffenen Menschen gewesen, nicht nur nur ein schwerer Schaden für die Bundesrepublik Deutschland, Westeuropa und die Vereinigten Staaten, sondern es hätten sich daraus mit großer Wahrscheinlichkeit sehr gefahrvolle Konsequenzen für den Frieden ergeben.“
Brandts Plädoyer für eine „aktive Koexistenz-Politik“
Zur Sicherung des Friedens sprach sich Brandt in Oslo erneut klar für eine „aktive Koexistenz-Politik“ der beiden Blöcke aus, die „weder von Furcht noch von Vertrauensseligkeit getragen sein“ dürfe. Klar sei, dass Frieden kein „Urzustand“ sei: Er müsse vielmehr immer wieder von Menschen gemacht werden.
Um „ein Gebäude des Friedens zu errichten“, umriss Willy Brandt in Oslo sieben Elemente „eines möglichen europäischen Friedenspakts“ – von einem „Gleichgewicht zwische den Staaten und Staatengruppen“, über die „Teilnahme an speziellen Vereinbarungen über Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle“ bis hin zur Entwicklung neuer „Formen der wirtschaftlichen und technisch-wissenschaftlichen Zusammenarbeit“ und einem Ausbau einer „gesamteuropäischen Infrastruktur“. Verglichen mit der Europäischen Union, die erst 20 Jahre später gegründet wurde, mutet Brandts Forderung visionär an.
Soziale Gerechtigkeit als Grundlage für Frieden
Entscheidend für einen dauerhaften Frieden sei aber vor allem eins: soziale Gerechtigkeit. „Materielle Not ist konkrete Unfreiheit“, so Brandt. „Sie muss, jedenfalls in Europa, durch Evolution überwunden werden.“ Der Kontinent, von dem im 20. Jahrhundert so viel Leid ausging, trage zudem eine „Mitverantwortung für den Weltfrieden“. Von der Politik forderte Brandt in Oslo daher: „eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und Verhandlungen über die Truppenreduktion“. Die erste Sitzung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sollte eineinhalb Jahre später in Helsinki stattfinden. Die Staaten des Warschauer Pakts hatten hierfür maßgeblich die Initiative übernommen.
„Friede“, so hatte es ihnen Willy Brandt bereits während seiner Nobelpreis-Rede ins Stammbuch geschrieben, sei „mehr als Abwesenheit von Krieg“.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.